»Ich bin davon überzeugt, dass ich meine Gesundheit und meine Lebensgeister nicht erhalten kann, wenn ich nicht wenigstens vier Stunden am Tag – für gewöhnlich sind es mehr – durch die Wälder und über die Hügel und Felder streife, vollkommen frei von weltlichen Verpflichtungen.«1
So schreibt im 19. Jahrhundert der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau. Berühmt wurde er für sein Experiment, zwei Jahre in einer einfachen Hütte gelebt zu haben, womit er zur Ikone vieler Aussteiger wurde.2
Auch wenn wir nicht vorhaben, der Gesellschaft den Rücken zuzukehren, oder täglich vier Stunden zu gehen, können wir uns von seiner Liebe zur Natur inspirieren lassen, wenn wir heute unsere nächste Weise des Gehens betrachten: das Wandern.
1. Wie Wandern die Welt weit macht
Wandern ist Fort-Bewegung im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bewege mich ›fort‹, ich gehe weg, fort, in die Ferne. Früher war das Wandern oft die einzige Möglichkeit, ferne Ziele zu erreichen.
Was ist eigentlich Wandern?
Wanderungen zeichnen sich gegenüber Spaziergängen dadurch aus, dass sie meist mehrere Stunden dauern, geplant sind, und mit Ausrüstung beschritten werden.
Schon seit dem Spätmittelalter gab es institutionalisierte Formen des Wanderns wie die Wanderjahre der Gesellen (die Walz). Später wurde durch die Romantik das Wandermotiv beliebt. Im 19. Jahrhundert entstanden schließlich die Wandervereine.
Heute ist das Wandern durch den Wandertourismus zu einer vielfältigen Freizeitbeschäftigung geworden: vom Bergwandern und Nachtwandern über Bildungswandern bis hin zu Barfußwandern.
Die Bibliothek der Welt
Die anhaltende Begeisterung für das Wandern verdankt sich, denke ich, vor allem dem Umstand, dass es die Welt weit macht. Wanderungen (und Reisen aller Art) lehren wieder das kindliche Staunen. Thoreau beschreibt es:
»Eine ganz neue Aussicht ist ein großes Glück, und das kann ich jeden Nachmittag erfahren. Schon eine zwei- bis dreistündige Wanderung bringt mich in eine Gegend, wie ich sie mir nirgendwo fremder vorstellen kann.«3
Ich war bei meinem Vormittagswanderungen rund um Baden-Baden immer begeistert, an wie vielen Orten man in nur zwei Stunden vorbeikommen kann: ein Weiher, ein Wald, eine Kirche, Weinberge, ein Dorf in einem Tal.
Die Welt wird dem Wanderer weit, weil all diese Orte zu sprechen beginnen:
»Das Gehen ist eine endlose Bibliothek, die jedes Mal auf den Roman der gewöhnlichen Dinge am Wegesrand verweist und mit der Erinnerung der Orte konfrontiert, mit kollektivem Gedenken, gestiftet durch Schilder, Ruinen und Monumente. Das Gehen ist ein Durchqueren von Landschaften und Worten.«4
Tiefe und Weite
Routinen führen in die Tiefe. Reisen führen in die Weite. Beide sind wichtig. Denn manchmal braucht es den Tapetenwechsel des Fort- und Wiederkehrens, um nach der Rückkunft wieder klar zu sehen, was das ganze eigentlich soll (und was man nun lassen kann, weil es unterwegs bereits unsichtbar abfiel).
Selbst kurze Wanderungen schaffen diese heilsame Distanz; selbst kleinen Auf- und Ausbrüchen wohnt der Zauber des Anfangs inne.5 Denn wir sind auch unser Raum, den wir entweder als Gefängnis gestalten oder uns erschließen. Wenn wir wandern oder reisen, werden die gesehen Orte ein Teil von uns und weiten unsere Welt.
Schließlich eröffnet das Wandern den Weg zu einem wahren Luxusgut unserer Zeit: der Stille. Wer wandert, kann echte Stille erleben. Und sie kann uns daran erinnern, dass das Leben einfach ist.6
2. Das einfache Leben
»Leicht ist der Weg zum guten Leben.«, schreibt Seneca einmal.7
Auch wenn das nicht immer gelten mag, kann uns das Wandern daran erinnern, dass das Leben vielleicht nicht immer leicht, aber im Grunde einfach ist, besteht es doch ebenfalls darin, eine Route zu finden, dann einen Schritt vor den anderen zu setzen, und schließlich ab und zu Pausen zu machen.
Was ein Mensch braucht
Das Wandern lehrt wieder wieder die natürliche Rhythmen von Anstrengung und Ruhe, die wir im Büroalltag oft nicht spüren, da wir ja nur ›zur Hälfte‹ ausgebrannt sind (mit dem Kopf), während der Körper eigentlich nur stundenlang herumsaß.
Beim Wandern gehen uns wieder die wahren Bedürfnisse auf, die wir ja auch hier im Blog schon betrachtet haben: Essen und Trinken, Kleidung, ein guter Ort zum Ruhen.
Auch Gegenstände werden befragt: Brauche ich das wirklich? Denn anders als beim Videospiel-Inventar ist der Real-life-Rucksack nicht gewichtlos, sodass gut überlegt werden muss, was mitdarf und welche Kleidung es wirklich braucht (Stichwort Zwiebelprinzip).8
Wer wandert, ist frei
Bei diesem Fokus auf das Wesentliche helfen auch die Wanderwege, die mit ihren Schildern Orientierung geben und vom Smartphone losketten (und zudem die Ruhezonen der wilden Tiere schützen). Man kann sich dem Weg überlassen.
Auf seinem Weg ist der Wanderer frei. Er ist Souverän über seine Zeit. Niemand hupt, niemand drängelt. Er entscheidet selbst, wann er eine Rast einlegt oder verweilt, um etwas zu betrachten. Kriterium ist ihm allein die ihn umgebende Landschaft und Natur.
3. Die herrliche Armut der Natur
Es ist schon alles da. Dieser Satz kommt mir manchmal in jenen Resonanz-Momenten, wie sie nur die Natur schenken kann, etwa bei einem schönen Ausblick in ein Tal. Diese Landschaft, wie sie sich hier auftut, ist vollkommen arm, sie ist einfach da. Und doch hat sie alles (vgl. 2. Korinther 6,10).
Ich nenne diese stille Fülle gerne: die herrliche Armut der Natur. Der Sabbat, die Ruhe Gottes, die die Schöpfung erst vollendet, ist bereits da. Sie muss nicht erst noch ›verdient‹, sie muss nur wahrgenommen und gefunden werden.
Gottes stille Stimme
»Obwohl er nicht spricht, wirkt der Umstand, dass alles aus Ehrerbietung für ihn schweigt, gerade so, als spräche er.«9
So beschreibt Søren Kierkegaard in seiner liebevollen Betrachtung über die Lilie und den Vogel aus der Bergpredigt, diese stille Fülle, die man in der Natur erleben kann. Die Natur kann also durchaus ein Weg zu Gott sein – und: ein Weg zu sich selber.
Wanderung zu sich
Das erlebt der italienische Humanist Francesco Petrarca, als er im Jahre 1336 mit seinem Bruder den etwa 1900 m hohen Mont Ventoux besteigt. Oben angekommen schlägt er eine Stelle aus den Confessiones des hl. Augustinus auf und liest dort:
»Da gehen die Menschen hin und bestaunen die Gipfel der Berge, die ungeheuren Wogen des Meeres, das gewaltige Strömen der Flüsse, die Größe des Ozeans und die Kreisbahnen der Sterne, aber sich selbst vergessen sie.«10
Wie in einem Spiegel findet er in diesen Worten die Größe der menschlichen Seele: denn all diese Seen, Flüsse, Berge und Täler sieht er ja auch in seinem Geist, wenn er die Augen schließt (oder darüber liest, wie jetzt gerade).
Die herrliche Armut der Natur zeigt uns also sowohl die Größe Gottes, der sie erschaffen hat und in ihr verbogen anwesend bleibt, als auch die Größe des Menschen, der sie erkennen und erkunden darf.
So können wir diese Betrachtung über das Wandern schließen mit einer Strophe aus Joseph von Eichendorffs Gedicht Der frohe Wandersmann:11
Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Den schickt er in die weite Welt; Dem will er seine Wunder weisen In Berg und Wald und Strom und Feld.
Mit dieser Gunst Gottes ausgestattet, betreten wir beim nächsten Mal wieder mehr theologischen Boden, wenn wir zum Pilgerstab greifen, um diese besondere Weise des Gehens zu betrachten: das Pilgern.
Gottes Segen und bis bald,
Thoreau, Henry David, Vom Wandern, übers. v. Heiner Feldhoff, Zürich: Kampa 2022, S. 11.
Thoreaus Loblied auf das Wilde teile ich nicht ganz: wir haben unser Überleben der Natur abgetrotzt und auch Thoreau wanderte mit Utensilien wie Kompass und seine Hütte lag in der Nähe der Stadt, sodass er Zuhause Kuchen essen konnte. Doch: das Wilde hat eine eigene Würde, die es zu schützen gilt; nur sollten wir die Würde der Kultur nicht hintanstellen, denn auch sie ist ein Wunder.
Thoreau, Vom Wandern, S. 17.
Le Breton, David, Lob des Gehens, übers. v. Milena Adam, Berlin: Matthes & Seitz (3. Aufl.) 2024 [MSB Paperback 16], S. 65.
Bei größeren Wanderungen sowieso: »Den ersten Schritten wohnt die Leichtigkeit des Traums inne, der Mensch geht auf der Spur seiner Sehnsucht, den Kopf voller Bilder, frei, er kennt die Erschöpfung noch nicht, die ihn in einigen Stunden erwartet.« (Le Breton, Lob des Gehens, S. 28)
»Sie [die Stille] kennzeichnet einen Moment der Einfachheit, der es erlaubt, Bilanz zu ziehen, Vorbereitungen zu treffen, einen inneren Zusammenhalt zu finden, eine schwierige Entscheidung in Angriff zu nehmen.« (Le Breton, Lob des Gehens, S. 56f)
»Facilis est ad beatam vitam via.« (Seneca, De ira. Über die Wut. Lateinisch/Deutsch, übers. u. hrsg. v. Jula Wildberger, Stuttgart: Reclam 2023, II,13,2)
Je nach Witterungen kann eine Lage an- oder ausgezogen werden. »Jede Schicht hat eine Funktion. Die Basisschicht (direkt auf der Haut) verwaltet Feuchtigkeit; die isolierende Schicht schützt vor Kälte; die Schalenschicht (äußere Schicht) schützt vor Wind und Regen.« (Ayerle, Nina, Wandern. 100 Seiten, Ditzingen: Reclam 2022, S. 91)
Kierkegaard, Sören, Die Lilie auf dem Feld und der Vogel unter dem Himmel. Drei Reden, Gott betreffend, übers. v. Peter Urban-Halle, Berlin: Matthes & Seitz 2024 [Theologische Brocken 1], S. 27.
Confessiones X,8,15; Augustinus nimmt anschließend die Erkenntnis Petrarcas bereits vorweg, über den menschlichen Geist, der all das fassen kann, zu staunen.
Zit. nach Hausbuch Deutscher Dichtung. Gedichte und Balladen vom Mittelalter bis heute, hrsg. v. Roland W. Pinson, Bayreuth: Gondrom 1982.