Ich gehöre zu einer seltenen Spezies. Zu jenen Dinosauriern nämlich, die nie in ihrem Leben ein Smartphone besessen haben. Die Konsequenz ist, dass ich mich manchmal verlaufe. Wenn ich ›lost‹ bin, bin ich lost. Google Maps ist nicht. Straßenschild finden, auf die Karte gucken, neu orientieren (ja, ich habe eine richtige Papierkarte, s. Bild ;)).
Jeder, der sich auch manchmal verläuft, weiß, dass solche Umwege oft die spannendsten sind. (Zumindest, sofern sie harmlos in der eigenen Stadt passieren und nicht, wenn man in der Fremde ist oder Zeitnot hat.) Denn sie bringen uns an Orte, die wir auf unseren eingewöhnten Routen nie entdeckt hätten: Plätze, Gassen, vielleicht neue Lieblingsorte. Viele Abenteuer beginnen vor der eigenen Haustür.
1. Spazieren als Luxus
Gehen um des Gehens willen, ist ein Luxus. In früheren Zeiten war das Gehen schlichtweg die notwendige Form der Fortbewegung. Um von A nach B zu kommen, musste man – gehen. Auch in der ältesten Wirtschaftsform der Welt, bei den umherziehenden Nomaden, mit ihrer Viehzucht und Weidewirtschaft, ist das Gehen keine Muße, sondern eine Lebensstrategie.
Nur für die Reichen?
Historisch gesehen, war das müßige Spazieren, waren die schönen Parks und Alleen, also zunächst den Reichen vorbehalten. Nur wer finanziell unabhängig war und nicht arbeiten musste, konnte sich müßig die Beine vertreten.
Im 19. Jahrhundert sollen Flaneure in Paris sogar Schildkröten an der Leine ausgeführt haben, um durch das langsame Tempo zu signalisieren: ich habe Zeit, alle Zeit der Welt. Im Extremfall kann dem Spazieren also auch etwas Dekadentes anhaften.
Viel unterwegs, wenig in Bewegung
Heute steht die Möglichkeit, durch Städte und Grünflächen zu schlendern, zum Glück allen offen. Unser Problem ist weniger die äußere Freiheit, sondern die innere. Denn wir leben motorisiert und beschleunigt.
Wir können immer schneller von A nach B (Auto, U-Bahn, Bus, Flugzeug usf.) und wollen (ja ›müssen‹) darum auch immer schneller von A nach B. Wir sind viel unterwegs, aber wenig in Bewegung.
Die innere Freiheit besteht heute also darin, sich Zeit zu nehmen; sich selbst zu signalisieren, dass Zeit ist. Das Spazieren eignet sich ideal dazu, weil es eine Form der sinnvollen Zeitverschwendung ist.
Zweckfrei, aber sinnvoll
Wer spaziert, muss nirgendwo ›ankommen‹. Spaziergänge sind keine Termine oder Besorgungsgänge. Sie sind zwecklos und doch sinnvoll, da sie längerfristig guttun, wie wir letztes Mal gesehen hatten.
Spaziergänge sind lebenslange Begleiter. Selbst wenn die Route immer wieder die gleiche sein sollte, gleicht doch kein Spaziergang dem anderen. Stets entdeckt man Neues, allein wegen der wechselnden Jahreszeiten, oder eine kleine Kuriosität wie einen Igel. Wie Le Breton schreibt:
»Der Spaziergang offenbart die Exotik im Vertrauten, er lenkt den Blick ab und sensibilisiert für die Variation der Details.«1
2. Flanieren: im Atem der Stadt
Flanieren ist die Kunst, durch die Stadt zu gehen. Das Wort kommt aus dem Französischen und bedeutet ›umherstreifen‹ oder ›umherschlendern‹. In der Stadt haben wir unsere eingelaufenen Strecken: der Weg zur Schule, zur Arbeit, zur Uni. Seltsam selten verlassen wir sie. Der Flaneur will genau das:
»Er bewegt sich außerhalb seiner persönlichen Gewohnheiten, er vernachlässigt das Geflecht seiner üblichen Strecken, geht darüber hinaus, vergisst und überschreitet es.«2
Neue Eindrücke
Beim Flanieren wird mehr beobachtet als beim kontemplativ-betrachtenden Spazieren. Für seine Erkundungen braucht der Flaneur die Stadt: vom vergessenen Viertel bis zum Großstadtdschungel. Auch die Menschen und den Lärm der Stadt, nimmt er in Kauf.3
Während der Wanderer und Pilger (die wir noch betrachten werden) die Menschenmassen meiden, sucht der Flaneur sie: Manche denken sich Geschichten aus zu den vielen Gesichtern, die ihnen begegnen; Schriftsteller zücken ihr Notizbuch und halten Eindrücke für den nächsten Roman fest; Künstler greifen zum Skizzenbuch auf der Suche nach Motiven (urban sketching).
Im Gewimmel
Städte sind unübersichtlich. Die Ansicht von oben, wie bei den Fächerstädten auf Barockgemälden, zeigt schon eine Verfremdung, da wir ja die Stadt nicht von einer Anhöhe aus wahrnehmen, sondern uns mittendrin im Gewimmel befinden. Der Jesuit und Soziologe Michel de Certeau (1925-1986) schreibt dazu:
»Die Panorama-Stadt ist ein ›theoretisches‹ (das heißt visuelles) Trugbild, also ein Bild, das nur durch das Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge zustandekommt. […] Die gewöhnlichen Benutzer der Stadt aber leben ›unten‹ (down), jenseits der Schwellen, wo die Sichtbarkeit aufhört. Die Elementarform dieser Erfahrung bilden die Fußgänger, die Wandersmänner (Silesius), deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen ›Textes‹ folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können.«4
Doch sind die Fußgänger nicht die einzigen, die am Text der Stadt schreiben. Sie haben eine Konkurrenz: die Autos.
3. Städte für Menschen
Viele Städte wurden nicht für Menschen gebaut, sondern für Autos. Der Fußgänger darf sich aus der Wohnung durch geparkte Autos quetschen, schnell links und rechts nach fahrenden Autos Ausschau halten und sich dann auf einen schmalen Gehweg flüchten, den er sich mit den anderen Passanten teilt:
»Der Bürgersteig ist eine chaotische Herberge, die alle Rythmen des Umherwanderns aufnimmt, den langsamen Schritt der älteren Menschen ebenso wie das überstürzte Rennen der Kinder, die Hast derjenigen, die auf dem Weg zur Arbeit sind, die Gelassenheit der Touristen, die andauernd anhalten, weil sie etwas Interessantes entdeckt haben, den Gang des Flaneurs, der sich mit seinen täglichen Vorrat an Eindrücken versorgt.«5
Autos statt Menschen?
Allein der Bürgersteig ist also den Fußgängern als Refugium gewiesen. Die Straße gehört den Autos.6 Darunter leiden besonders arme Menschen, die sich meist nur Wohnungen an Transitstraßen leisten können. Außerdem trifft Kinder und Babys die Motorisierung besonders, da sie aufgrund ihrer niedrigeren Körpergröße mehr Schadstoffe einatmen als Erwachsene;7 außerdem haben sie weniger Raum zum Spielen.
Das war nicht immer so und müsste auch nicht so bleiben. Straßen könnten wieder Begegnungsräume werden. Städte für Menschen8 lautet das weltweit rezipierte Motto, das der dänische Stadtplaner Jan Gehl geprägt hat, wenn es darum geht, urbane Räume wieder lebenswert zu machen.
Promenadologie
Autofreie Innenstädte,9 Fassadenbegrünung, Schattendächer, Begegnungsräume, attraktive Fortbewegungsmittel (wie das 365-Euro-Ticket hier in Wien), sind nur einige Lösungsansätze im weiten Feld der Stadtplanung.
Das Gehen spielt dabei eine wichtige Rolle. Der Soziologe Lucius Burckhardt (1925-2003) forderte eine Promenadologie:10 dass also Städte für die Planung zu Fuß erkundet und auf neue Ideen und ihre ›Walkability‹ hin untersucht werden. Man sollte nur Orte gestalten, die man sich erlaufen hat.
Die Stadt ist für den Menschen da, nicht mehr Mensch für die Stadt. Und die Promenadologie ist eine Wissenschaft, an der jeder von uns mitwirkt, wenn er spazieren geht – direkt vor der eigenen Haustür.
Wie bereits angekündigt, gehen wir einige Umwege, ehe wir wieder mehr beim Theologischen landen. Beim nächsten Mal tauchen wir ab in virtuelle Welten und betrachten eine Weise zu gehen, die nicht erst vor der Haustür, sondern bereits von Zuhause aus startet: das Gehen in Videospielen.
Gottes Segen und bis bald,
Le Breton, David, Lob des Gehens, übers. v. Milena Adam, Berlin: Matthes & Seitz (3. Aufl.) 2024 [MSB Paperback 16], S. 95.
Le Breton, Lob des Gehens, S. 131f.
»Das Empfinden von Lärm tritt auf, wenn der umgebende Ton die Ausmaße einer Sinneswahrnehmung übersteigt und sich eine Art Angriff aufdrängt, der keine Verteidigung zulässt. Die Stadt ist Synonym von Lärm.« (Le Breton, Lob des Gehens, S. 144)
de Certeau, Michel, Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988, S. 181f.
Le Breton, Lob des Gehens, S. 140f.
»Die Massenmotorisierung und die moderne Trennung der verschiedenen Lebensbereiche haben den städtischen öffentlichen Raum für uns komplett verändert. Es geht vorwiegend nur noch darum, ihn zu durchqueren und schnell von A nach B zu kommen.« (Allianz der freien Straße (Hrsg.), Manifest der freien Straße, Berlin: Jovis 2022, S. 14)
Vgl. Manifest der freien Straße, S. 78f.
Vgl. zu seiner Person und Vision <https://thelink.berlin/2016/07/jan-gehl-gehl-architects-staedte-fuer-menschen-jovis-verlag/> sowie zum gleichnamigen Buch <https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783868598223/html#contents>.
Die Phantasie mancher Politiker, das Auto-Problem einfach dadurch lösen zu wollen, willkürlich Fahrbahnen einzuschränken und Autofahrern das Leben schwer zu machen, ist keine Lösung.