»An den Strömen von Babel, da saßen wir und wir weinten, wenn wir Zions gedachten. An die Weiden in seiner Mitte hängten wir unsere Leiern. Denn dort verlangten, die uns gefangen hielten, Lieder von uns, unsere Peiniger forderten Jubel: Singt für uns eines der Lieder Zions! Wie hätten wir singen können die Lieder des HERRN, fern, auf fremder Erde?« (Psalm 137,1-4)
Diese oft vertonten Verse des Psalms 137 beschreiben die schmerzhafte Erfahrung, die eigene Heimat verloren zu haben und in der Fremde leben zu müssen. Wie ein roter Faden zieht sie sich durch die gesamte Heilige Schrift: angefangen mit dem verlorenen Paradies, über das Leben im ›Sklavenhaus‹ Ägypten, bis hin zum Babylonischen Exil.
Über den historischen Kern der Erzählungen hinaus spinnt sich dieser Faden weiter bis in unsere Zeit. Ja, die Moderne scheint sogar eine eigene Form der Heimatlosigkeit hervorgebracht zu haben:
»Wir leben in der Neuzeit – wie bequem auch immer – gewissermaßen in einem Haus auf Widerruf, wir leben, vis-a-vis der Trümmer unserer alten Häuser, in einem provisorischen Bau.«1
Wir leben nach wie vor in einer Art Exil und in der Fremde. Mit dem Soziologen Hartmut Rosa gesprochen:
»Resonanz bleibt das Versprechen der Moderne, Entfremdung aber ist ihre Realität.«2
1. Leben in der Entfremdung
So wie es toxische Menschen gibt, gibt es toxische Orte. Unorte, die einem Energie abziehen, die stumpf und dumpf werden lassen. Solche Orte eröffnen Todesräume. In ihnen stimmt etwas nicht. Sie sind nicht eingerichtet, nicht richtig. Und doch müssen Menschen in ihnen wohnen. In von Gewalt beherrschten Vierteln, zerstrittenen Nachbarschaften, Elendsquartieren oder in Einsamkeit.
Es ist dort Leben möglich, doch ist es ein Leben in der Entfremdung, frei nach dem berühmten Satz Adornos (der auch vom Wohnen handelt): »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«3 Heimatgefühle stellen sich dort nicht ein, vielmehr Überdruss, wie er sich etwa in Psalm 120 ausdrückt:
»Ich muss schon allzu lange wohnen bei denen, die den Frieden hassen.« (Psalm 120,6)
Wenn Wohnen der Wunsch ist, sich niederlassen zu können, statt immerfort bloß provisorisch Quartier beziehen zu müssen, so lösen toxische Orte ihn nicht ein. Sie verlangen ein Leben auf Abruf, ohne Innehalten, Verweilen oder Gemeinschaft. Zurecht sprechen wir darum von ›menschenunwürdigen Verhältnissen‹. Und auch die Orte selbst können in gewissem Sinne ›würdelos‹ behandelt werden. Hélder Câmara schreibt hierzu in einer Betrachtung:
»Ein Grundstück hab’ ich gesehen – / tot vor Scham, / zum Verkauf angeschrieben zu sein / wie ein Sklave / mit dem Preisschild / am Hals.«4
Doch wie gestalten wir Räume als Lebensräume? Da in unserer Zeit die meisten Menschen in Städten leben und hier zugleich Entfremdung und Einsamkeit am größten sind, wenden wir uns nun der Stadt als Wohnraum zu.
2. Die Bedeutung der Stadt
Städte scheiden Zivilisation und Wildnis. Sie erfüllt damit eine Grundfunktion des Wohnens, die wir schon betrachtet haben: die Trennung in ein Innen und Außen. Doch ist der Innenraum der Stadt kein homogenes Gebilde. Die Stadt ist unübersichtlich. Unsere Alltagssprache scheint darauf hinzuweisen, wenn wir sagen, wir lebten ›in‹ Städten, doch ›auf‹ dem Land. In der Stadt lebt man im Gewusel, auf dem Land hat man Übersicht.
Auch das Sozialgefüge ist anders: Das Leben in den Städten ist anonymer und pluraler als auf dem Land. Im urbanen Kontext begegnen Menschen einander indifferent, auf dem Land weiß man (zum Guten oder zum Schlechten) Vieles voneinander. Die Pluralität der Stadt wirkt auch kreativ: so kommen Innovationen meist aus Städten.
Städte haben weiter eine eigene Anatomie. Sie bilden einen Organismus, ein Netzwerk von Zyrkulationswegen, das belebt und bevölkert ist. Darum bieten sich Städte als Bild für Kollektive an und lassen sich leicht personifizieren, etwa wenn wir davon sprachen, dass eine Stadt ›schläft‹. Jede Stadt hat ihren eigenen ›Charakter‹ und ihren eigenen Körper.
Zwei zentrale Städte, die in der Bibel als Charaktere auftreten, sind das bereits erwähnte Babylon und Jerusalem.
3. Babylon oder Jerusalem
Städte wachsen von einem ein Zentrum aus, einen Stadtkern. Wenn sie durch Bombardierung nicht zu sehr verwundet wurden, haben sie vielleicht sogar noch ein ›Herz‹, eine Altstadt. Oder sie sind Mega-Cities ohne Identität, Haufen, lose um einige Wallmarts gruppiert.
Die Dorf- oder Stadtkirche im Zentrum ist darum mehr als ein Postkartenmotiv. Die Häuser gruppieren sich um die Kirche, weil der Glaube als das höchste Gut gilt. Heute sind Wirtschafts- und Versicherungsgebäude die höchsten Türme unserer Städte, weil Wohlstand und Sicherheit als das höchste Gut gelten.
Städte sind also nicht unschuldige oder blinde Systeme, die bloß ›entstehen‹. Sie gruppieren sie sich um das, was ihren Einwohnern am wichtigsten ist.5 Biblisch gesprochen: Sie bauen sich um das, was angebetet wird.
Babylon ist der Ort des Exils. Hier ist der kollektive Organismus krank, das Leben entfremdet. Gott wird hier nicht angebetet, das Leben ist ver-rückt. Jerusalem hingegen erscheint zunächst als Heimat und Sehnsuchtsort. Doch bleibt es nicht dabei: auch in Jerusalem ist das falsche Leben, ist Babylon:
»Jerusalem erscheint von Anfang an als Ort der Feinde Jesu«6.
Beide Städte sind also gefallene Städte (wie beide Söhne verlorene Söhne sind) – doch erhält Jerusalem sozusagen ›ein himmlisches Comeback‹.7 Ein Ende der Entfremdung und ein Heimkommen sind biblisch gesehen also möglich, obschon sie in ihrer Fülle noch ausstehen – wir werden darauf zurückkommen. Nächste Woche werden wir jedoch noch in Babylon bleiben und uns einige falsche ›Heimwege‹ anschauen, die nur zum Schein Heimat versprechen.
Im Anhang füge ich noch drei sehenswerte Videos von The Bible Project bei, in denen die biblischen Hintergründe von Exil und die Bedeutung der Stadt weiter beleuchtet werden.
Gottes Segen und bis nächste Woche, Maximilian Maria
🎥 Über das Exil:
🎥 Über das Leben im Exil:
🎥 Über die Bedeutung der Stadt:
Zaborowski, Holger, »Zur Phänomenologie des Wohnens«, in: Communio 33 (2004), S. 210-230, hier S. 225.
Vgl. Rosa, Hartmut, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp (6. Auf.) 2022 [stw 2272].
Adorno, Theodor W., Minima Morelia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (11. Aufl.) 2018 [Gesammelte Schriften 4/stw 1704], S. 43. Pessimistisch äußert Adorno im selben Kontext: »Das Haus ist vergangen.« (ebd., S. 42).
Camara, Helder, Mach aus mir einen Regenbogen. Mitternächtliche Meditationen, übers. v. Alfred Kuoni, Zürich: Pendo (3. Aufl.) 1981.
Wenn wir uns in einer globalen Welt als ›Kosmopoliten‹ begreifen: auch diese polis muss gestaltet werden.
Schnelle, Udo, »›Wenn ihr an einem Ort zusammenkommt‹ (1Kor 11,20). Sichtbare Räume des Unsichtbaren: Raumvorstellungen im Neuen Testament«, in: David, Philipp et. al. (Hrsg.), Bauen – Wohnen – Glauben. Lebendige Architektur und religiöse Räume, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023 [Hermeneutik und Ästhetik 8], S. 161-197, hier S. 165. Rom als weitere wichtige Stadt weißt ebenfalls eine Ambivalenz auf: als Weltstadt ist sie in der Apostelgeschichte für Paulus das natürliche Ziel Verkündigung und erscheint in den Johannesapokalypse zugleich als Unheilsstadt.
»Die Johannesoffenbarung läuft auf ein dramatisches Endgeschehen zu: Nachdem die Unheilstadt Rom/Babylon vernichtet wurde (Offb 18,1–24), erscheint als endzeitliches Gegenbild das vom Himmel herabsteigende neue Jerusalem (Offb 21,1–22,5; vgl. 3,12).« (Schnelle, S. 191f)