
1. Der unschuldige Bauch
Ein runder Bauch und ein guter Appetit können jemanden grundsympathisch machen. Denken wir an die Comic-Figur Obelix, der als laufende Kugel – die auch die Längsstreifen seiner Hose nicht kaschieren können – Jagd auf Wildschweine macht; oder an die Anime-Figur Monkey D. Ruffy (One Piece), dessen Gelage seinen Gummikörper schon einmal in eine Kugel verwandeln.
Wir alle haben unter einem runden Bauch unser Leben begonnen; bei buddhistischen Gottheiten steht der runde Bauch für Freundlichkeit und Glück; und von der Bedeutung der ›Bachgefühle‹ hatten wir schon gesprochen. Am Bauch an sich ist also nichts verkehrt, wie an keinem Glied des menschlichen Körpers.
Wenn also Paulus sagt: »Ihr Gott ist der Bauch.« (vgl. Philipper 3,19), diskreditiert er nicht den menschlichen Leib (an anderer Stelle entwickelt er selbst das Bild der Christen als Glieder am Leib Christi). Auch der Appetit ist nicht das Problem, sondern kann in Dankbarkeit auf Gott ausrichten:
»Ob ihr also esst oder trinkt oder etwas anderes tut: Tut alles zur Verherrlichung Gottes!« (1 Korinther 10,31)
Was Paulus kritisiert ist eine – negative oder positive – Obsession mit dem Essen, die den Bauch zum Götzen macht. Und wie jeder Abgott macht auch ›Gott Bauch‹ Probleme.
2. Der Bauch als Gott
Kulinarische Obsessionen
In der erfolgreichen Netflix-Serie Delicious in Dungeon (2024) dreht sich alles ums Essen. Dass Helden sich in Dungeons stürzen, um Abenteuer zu erleben, ist ein etabliertes Fantasy-Szenario; damit spielt der Serie, indem sie die Insassen der Dungeons, die Monster, die üblicherweise Jagd auf die Abenteurer machen, selbst zu Gejagten werden lässt. Denn die Abenteuer sind Gourmets und auf den Geschmack gekommen, dass sich aus den Monstern ungekannte Gerichte zaubern lassen.

Die Jagd nach kulinarischem Genuss kann jedoch selbst das ›Geschmäckle‹ einer beinahe religiösen Hingabe entwickeln. In Kochshows wird ›gehakt, zerschnippelt, zermahlen, zerschossen‹ (Serdar Somuncu); Starköche schreiten Priestern gleich an den ›Altar‹ und bereiten das profane Mahl.
Der heilige Hamburger
Das Schlaraffenland ist Realität geworden: die meisten leben heute, wie es früher nur Könige konnten. Doch herrscht in diesem Schlaraffenland (wie schon im Bild oben) auch die Acedia, die Trägheit; denn wer nur links und rechts zu swipen braucht, und alle Güter der Welt fliegen ihm in den Mund, läuft Gefahr, seine Abenteuerlust gerade zu verlieren, und ziellosem Vollstopfen und Konsum zu verfallen.
Heute sind wir alle eins: Konsumenten. Diese umfassend-globale Gemeinschaft kennt wie die katholische Weltgemeinschaft (καθολικός heißt allumfassend) ein gemeinsames Mahl. Der Hamburger wird ›sakramental‹ verzehrt, er wird »zum Sakrament der eigenen Zugehörigkeit zur globalen Welt der Konsumenten«1. Wo immer ich auf der Welt bin, kann ich die Eucharistie empfangen (katholisch); Wo immer ich auf der Welt bin, kann ich einen BigMac essen (global).
Konsum als Lebenshaltung
Daran ist grundlegend nichts Schlechtes, doch liegen die vielfältigen Probleme unserer globalen Konsum-Lebensform auf der Hand. Denn: Wir konsumieren mehr, als wir verbrauchen; wir bestellen mehr als wir essen. Wir verzehren natürliche und humane Ressourcen schneller als sie regenerieren, und darin letztlich uns selbst.
Der Trappist und geistliche Schriftsteller Thomas Merton beschreibt eindrücklich diese Lebenshaltung des Verzehrens, die weder den Mund voll genug bekommen, noch ihn halten kann:
»Es gibt Menschen, für die ein Baum erst Wirklichkeit gewinnt, wenn sie daran denken, ihn zu fällen, für die ein Tier nicht eher Wert hat, als bis es das Schlachthaus betritt, Menschen, die nie etwas anschauen, bevor sie nicht entschlossen sind, es zu missbrauchen, die überhaupt nichts bemerken, was sie nicht zerstören wollen. Solche Menschen können schwerlich das Schweigen der Liebe kennen. Denn ihre Liebe saugt ja gerade mit dem eigenen Lärm das Schweigen des anderen auf. Und weil sie das Schweigen der Liebe nicht kennen, wissen sie auch nichts von dem Schweigen Gottes, der die Liebe ist, der nicht zerstören kann, was Er liebt, der durch Sein eigenes Liebesgesetz gebunden ist, allen Leben zu spenden, die Er in Sein Schweigen zieht.«2
3. Völlerei als Todsünde
Die Konsum-Lebenshaltung kann also von Gott trennen, klassisch gesprochen: zur Todsünde ausarten. Als Völlerei, Gefräßigkeit oder Fresslust (lat. gula) zählt sie zu den ›7 Todsünden‹. In der christlichen Kunst tragen Dämonen passenderweise ihr Gesicht oft auf dem Bauch (sog. ›Bachgesichtler‹).
Weisheit aus der Wüste
Der große Wüstenvater Evagrios Pontikos beschreibt im 4. Jh. noch eine Achtzahl der Hauptsünden.3 Der Fresslust (gastrimargia, eigentlich ›entfesselter Magen‹) räumt er dabei sogar die Vorrangstellung ein. Er identifiziert die Fresssucht mit jenem Dämon, der nach Matthäus 12,43-45 seine sieben Mitdämonen herbeiruft.
Evagrios’ Einschätzung zeigt die psychologische Beobachtungsgabe der Wüstenväter. Denn die Völlerei bringt ja tatsächlich weitere Übel ins Haus: sie macht träge (I,16), mehrt andere schlechte Verhaltensweisen (I,1.2; II,27 u. a.) und macht unersättlich (II,28).
An die Stelle der Völlerei sind in der christlichen Tradition jedoch Hochmut und Neid als Hauptsünden getreten (was auch plausibler scheint); über die Völlerei hinaus ist das ›Fressen‹ dennoch eine adäquate Metapher für die Dynamik der Sünde.
Höllischer Fraß
Als tragischste Figur in Dantes Commedia gilt vielen Graf Ugolino. Im ewigen Eis der Hölle muss er am Kopf seiner Widersachers nagen, des Erzbischofs Ruggieri (s. Bild). Dieser hatte ihn zusammen mit zwei Söhnen und zwei Enkeln in einen Turm sperren und dort verhungern lassen. Der Text sowie die ihm auferlegte Strafe legen nahe, dass Ugolino am Ende seine eigenen Kinder verspeiste.
Leider sind solche schrecklichen Situationen bekannt, in denen Menschen vor lauter Hunger Kannibalismus begehen, etwa in Folge des ›Aushungerns‹ bei einer Belagerung (vgl. bspw. 2 Könige 6,28f). Wo eine solche Not jedoch nicht vorliegt, gilt das Verzehren anderer als Inbegriff des Bösen, wie in der Figur des Kannibalen Hannibal Lecter, der seine Opfer nicht nur tötet, sondern verspeist.
Auch bei Dante werden die tiefsten Schichten der Hölle neben dem Paradigma des Eises auch von dem des Fressens beherrscht; der Kommentator Hartmut Köhler schreibt:
»Die tiefste Hölle hat von hier an [Ugolino] damit zu tun, dass Menschen gefressen werden. Darin liegt die äußerste Gottesferne, eine dissacrazione des Abendmahls Christi [...].«4
Den Abschluss macht Luzifer selbst, der mit Dante und Vergil nicht in Dialog tritt, sondern in seinen drei Mäulern lustlos auf seinen Opfer herumkaut wie auf einem höllischen ewig-geschmacklosen Kaugummi. Dass Luzifer dabei weint, zeigt zudem an, wohin die Lebenshaltung des Fressens letztlich führt: in die Einsamkeit.
Mahl ohne Gemeinschaft
Wer nur aufsaugt, nur vertilgt, verzehrt sich letztlich selbst und steht am Ende alleine da; sei es, weil ihn alle verlassen haben, oder weil er ›Erfolg‹ hatte.
Doch der Bauch ist ein endloses Loch, ein Fass ohne Boden. Wirkliche Fülle stellt sich bei allem Völlegefühl nie ein. Zumal die Sünde ihren eigenen Speiseplan kennt, der alle andere als appetitlich ist: nicht umsonst sprechen wir davon, dass man dunkle Gedanken, Kränkungen oder Ressentiments ›in sich hineinfrisst‹.
Ein unheimliches Beispiel aus der Kunst für den einsamen Fraß ist Francisco de Goyas Darstellung von Saturn/Kronos, der sein Kind verspeist: im Dunkeln, allein, wie ein Monster aufgescheucht. Hinzukommt, dass das Bild als eines des ›black paintings‹ nie dafür gemalt wurde, von jemandem gesehen zu werden.5

Nicht der letzte Gang
Gott sei Dank hat diese schwere Kost nicht das letzte Wort. Denn das Mahl, die Hingabe, die Gemeinschaft, bleiben das Prinzip des Lebens, der höllische Fraß ist nur seine Umkehrung; wie es C. S. Lewis seinen Dämon Screwtape sagen lässt:
»Wir [die Dämonen] brauchen Vieh, das schließlich zum Fraß wird. Er [Gott] sucht Diener, die zuletzt zu Söhnen werden. Wir saugen sie aus. Er gibt sich her. Wir sind leer und wollen uns füllen. Er besitzt die Fülle und fließt über.«6
Bevor wir zu dieser Fülle kommen, leeren wir noch einmal den Teller und betrachten beim nächsten Mal die klassische Antwort auf die Völlerei: das Fasten.7
Gottes Segen und bis nächste Woche,
Radcliffe, Timothy, Warum Christ sein? Wie der Glaube unser Leben verändert, übers. v. Sabine Schratz, Herder: Freiburg 2012, S. 265.
Merton, Thomas, Keiner ist eine Insel. Betrachtungen über die Liebe, übers. v. Annemarie von Puttkamer, Ostfildern: Patmos (2. Aufl.) 2018, S. 264f.
Pontikos, Evagrios, Über die acht Gedanken, übers v. Gabriel Bunge, Beuron: Beuroner Kunstverlag (2. Aufl.) 2011 [Weisungen der Väter 3]; »1. Fresslust (gastrimargia, eigentlich ›entfesselter Magen‹), 2. Unzucht (porneia), 3. Geldgier (philargyria), 4. Kummer (lypê), 5. Zorn (orgê) – Kummer und Zorn tauschen bisweilen den Platz, so in unserem Fall – 6. Überdruss (akedia), 7. eitle Ruhmsucht (kenodoxia), 8. Hochmut (hyperêphania).« (Gabriel Bunge in der Einleitung (S. 7-26) zu Pontikos, Acht Gedanken, S. 13)
Hartmut Köhler, Anm. zu Inf. Inf XXXIII,75, in: Dante Alighieri, La Commedia. Die Göttliche Komödie. I. Inferno/Hölle. Italienisch/Deutsch, übers. u. komm. v. Hartmut Köhler, Stuttgart: Reclam 2010, S. 513
Vgl. zum Bild den Videoessay von Nerdwriter1 (YouTube).
Lewis, C. S., Dienstanweisung für einen Unterteufel, Freiburg: Herder 2015 [Spektrum 6815], S. 65.
Den Kampf gegen die Fresssucht sieht Evagrios in einer extravaganten Allegorie vorgebildet im alttestamentlichen Simson, der mit dem Kinnbacken eines Esels tausend Männer erschlägt (vgl. Richter 15,14-16; Pontikos, Acht Gedanken, Nr. I,7-9 (S. 30)). Den Sieg über die Völlerei gewinnt also, wer – salopp gesprochen – seine Kauluke im Griff hat.