In eine Rolle schlüpfen: Kleidung als Spiel, Verkleidung und Kostüm
Reihe: Eine Theologie der Kleidung 👘
Ausgehend vom sprichwörtlichen ›Kleider machen Leute‹, hatten wir letzte Woche betrachtet, wie Kleidung kommuniziert, indem sie ihrem Träger eine Rolle zuspricht. Dieser kommunikative Akt ist zugleich ein performativer Akt, eine ›Performance‹. Wer sich kleidet, schlüpft in eine Rolle. Er ›bekleidet‹ sie und ›spielt mit‹.
Diesem spielerischen Aspekt der Kleidung wollen wir heute anhand einiger Beispiele bestimmter Kleidungsformen auf den Grund gehen. Diese sind: das liturgische Gewand, die Verkleidung (auch im Alltag) und: das Kostüm.
1. Das Liturgische Gewand
Das Bild oben zeigt das Detail eines Messgewands aus unserem Konvent – eine kunstvoll gestaltete Blume mit Flechtwerk auf weißem Grund. Ein spielerisches Element innherhalb der Liturgie, die selbst ›Heiliges Spiel‹ ist (Romano Guardini).
Was tut liturgische Kleidung? Zunächst markiert sie den Unterschied von ›heilig‹ und ›profan‹ (vgl. Exodus 28 und 39),1 sie hebt ihre Träger ab und hebt sie hervor. Dazu lässt sie sie (etwa Priester oder Ministranten) im Gewand als Individuen verschwinden, sodass sie anschließend als Repräsentationsfläche ihrer liturgischen Funktion wieder auftauchen können. Sie hebt ihre Träger auf (und lässt sie aufgehoben sein).
Nur so lässt sich auch der Prunk liturgischer Gewänder erklären und rechtfertigen. Denn geschmückt wird nicht eine private Person (das wäre im Fall eines goldbestickten Gewands reinste Dekadenz), sondern eben die Rolle, die ›liturgische Person‹.
Dennoch muss sich ein Mensch erst das entsprechende Gewand überwerfen, um in einer Rolle (wie einer liturgischen) aufgehen zu können. Er muss bewusst einen Akt der Veränderung setzen um (zumindest zeitweise) jemand anderes zu werden. Kurz: Er verkleidet sich.
2. Die Verkleidung
Auch im Alltag verkleiden wir uns ständig. Mit unserem Gewand wandeln wir uns in die Person, die zu sein wir gerade kommunizieren möchten. Wir wechseln die Kleidung und damit die Rolle, setzen ›einen anderen Hut auf‹, wie man sagt. Manchmal wechseln wir sogar gleich die ganze Garderobe, ›erfinden uns neu‹, wollen uns verwandeln.
Interessant finde ich, dass alledem stets ein Moment der Antizipation innewohnt. Sich zu kleiden, ist immer auch ein Ausgriff auf die Zukunft, Kleidung ›rüstet sich zu‹. Ich ziehe die Regenjacke an, bevor es regnet; ich werfe mich in Schale, bevor das Date beginnt; ich werfe das Messgewand über, bevor ich an den Altar trete; usf. Kleidung gibt die Rolle ›vor‹, durchaus im zeitlichen Sinn. Sie wird nicht nur vorgestellt, sondern auch zeitlich vorangestellt. (Kinder sind hier die großen Meister, wenn sie durch ihre spielerische Verkleidung die Erwachsenen adaptieren und zugleich das Erwachsenenleben antizipieren.)
Wenn das so ist (dass Kleidung antizipiert), kann Kleidung auch genutzt werden, um sich in einen Zustand zu versetzen (oder auf diesen vorzubereiten), der gegenwärtig noch unerreichbar scheint. ›Fake it until you make it‹, wäre dann das Motto. Vielleicht haben wir es schon erlebt: sich wieder einmal ordentlich und gepflegt anzuziehen, wenn man gerade einen Durchhänger hat, kann beispielsweise schon helfen, sich wieder besser zu fühlen.2 Man muss die Dinge stets tun, bevor man bereit ist.
Wer sich so vorbereitet und kleidet, ist ›anmaßend‹ in einem guten Sinne. Er misst sich ein (noch) zu weites Stück Stoff ab, ›wählt eine Nummer zu groß‹ und kann sich so mittels seiner Kleidung dem annähern, wohin er möchte.3
3. Das Kostüm
Auch, was andere möchten, spielt bei der Verkleidung eine Rolle. Als letztes Beispiel möchte ich darum noch kurz das Kostüm erwähnen, also jene Kleidung, die andere für eine Person entwerfen um ihr eine Rolle zu geben.
Auch das Kostüm verkleidet einen Menschen, verwandelt ihn in einen ›Darsteller‹ seiner Rolle. Durch Formen, Farben und Muster können Kostümbildner den Charakter einer Rolle bereits in wenigen Sekunden ›lesbar‹ machen. Sauron wird in seiner pechschwarzen, gezackten Rüstung wohl niemand für den Guten halten. Einen Hobbit in seiner gemütlichen Kleidung schon eher.
Besonderer Spielraum besteht bei animierten Figuren, bei denen ja nicht bloß ein Kostüm, sondern die gesamte Körperform gestaltet ist, um ihr einen Charakter zu geben. Zwei interessante Beispiele wären das berühmte Pokémon Pikachu und die Animefigur Kid Goku: beide haben rundlich-knuffige Proportionen und zugleich zackenartige Elemente (Blitze bzw. scharf gezackte Haare). So wird durch die Formensprache deutlich, dass die Figur putzig ist, und doch besser nicht unterschätzt werden sollte.

Im Anhang füge noch ich zwei unterhaltsame und sehenswerte Videoessays des YouTube-Kanals Now You See It bei. Es geht um die filmische Bedeutung von gestreifter Kleidung und Kostümdesign.
Beim nächsten Mal verfolgen wir die Spur der Antizipation weiter, wenn wir ein ganz besonders Kleidungsstück betrachten: die Rüstung.
Gottes Segen und bis nächste Woche, Maximilian Maria
🎥 Now You See It, Stripes in Movies: Why Do Characters Wear Them? (Videoessay)
🎥 Now You See It, Costume Design: The Hidden Layer of Movie Magic (Videoessay)
Im Neuen Testament wird die alttestamentliche Kultkleidung nicht übernommen und auch sonst keine liturgische Kleidung erwähnt. Vermutlich trug man zunächst weiße Kleidung als Ausdruck der Reinheit sowie in Anlehnung an die Verklärung (vgl. Art.: »Gewänder, Liturgische«, in: TRE 13, S. 159-167).
Meines Wissens berichtet Viktor Frankl davon, dass man in den Konzentrationslagern diejenigen, die überleben wollten, mitunter daran erkennen konnte, dass sie (den Umständen entsprechend) noch auf ihre Erscheinung achteten, und sei es nur, indem sie sich das Gesicht wuschen.
Verkleidung und Anmaßung auch selbstverständlich auch schlecht sein. Jemand maßt sich eine Rolle an, die ihm nicht zusteht. Jemand bläst sich auf, gibt vor, mehr zu sein, als er ist – mehr Schein als Sein. Zuletzt kann Verkleidung, über jede spielerische Verstellung oder Verfremdung hinaus, auch schlicht Betrug sein. Dann lügt die Kleidung. Wie Jakob, der sich durch Verkleidung das Erbrecht seines Bruders Esau erschleicht (vgl. Genesis 27). (Weingärtner, Kleidung/Verkleidung, S. 6-17 nennt noch weitere biblische Erzählungen, in denen Verkleidung eine wichtige Rolle spielt – es sind überraschend viele.)