
Woran erkennt man die Tastatur eines Gamers? Es sind nicht die neonfarbenen LEDs, die sich irgendwann in die kollektive Gaming-Ästhetik eingeschlichen haben. Es sind die abgegriffenen – oder sollten wir sagen: abgelaufenen – Tasten: W, A, S, D.
Diese Tasten bilden in vielen Videospielen das Fortbewegungsmittel. Wie Pfeiltasten lassen sie die Spielfigur nach vorne (W), zurück (S) oder zur Seite gehen (A, D). Kenner benutzen die Num-Taste für das automatische Gehen. Oder man hüpft durch das Malträtieren der Leertaste wie wild in der Gegend herum. Diese eigentümliche Weise des Gehens, das Gehen in Videospielen, werden wir heute betrachten.
1. Fortbewegung in Videospielen
Computerspiele sind die »Darstellung erlebten Handelns«, das meint, dass das Spiel dem Spieler den Eindruck vermittelt,
»er könne eine fiktionale Figur zugleich verkörpern und ihr Handeln von außen, quasi unbeteiligt, betrachten«1.
Immersion
Ich ›bin‹ also die Spielfigur und steuere sie zugleich von außen. Damit diese Illusion gelingt, muss die Spielwelt glaubwürdig, immersiv sein.2 Das Interface (die Spieloberfläche mit ihren Bedienelementen) muss so selbstverständlich zurücktreten und zuhanden sein, dass ich sie vergessen kann um ins Spiel einzutauchen.
Diese Selbstverständlichkeit fällt wie im echten Leben erst auf, wenn sie ausfällt. Wenn ich plötzlich nicht mehr weitergehen kann, etwa weil das Spiel einen bug hat oder gecrasht ist, oder auch wenn ein Level unnötig unwegsam gestaltet ist.
Körperlose Märsche
Doch wenn alles rund läuft, läuft es sich leichtfüßig in Videospielen: Über einen Controller erfolgt eine Eingabe, über den Bildschirm die Ausgabe. Während meine Spielfigur sprintet, klettert oder schwimmt, bleibe ich vor dem PC oder der Konsole sitzen, nur die Finger hasten über die Tasten oder umfassen den Controller. Steuerung statt Bewegung – »körperlose Märsche«3 nennt das der bereits zitierte David Le Breton.
Freilich spielt man nicht in jedem Spiel einen Avatar, der sich stellvertretend körperlich betätigen muss. Mitunter befielt man auch Heere oder tut ganz andere Dinge, wie ein Puzzle zu lösen.
Und auch innerhalb von Rollenspielen schafft die Spielwelt Unterschiede hinsichtlich der Fortbewegung: einmal hüpfe ich durch die genau definierten Level einer zweidimensionalen Jump ‘n’ Run-Welt, ein anderes Mal finde ich mich in einer offenen Spielwelt (open world) wieder, die mir alle Möglichkeiten offen lässt.
Der Spieler spielt. Doch wie er spielt, wie er vorankommt, das bestimmt die Spielwelt.
2. Spielwelten
Die meisten Räume, die wir im ›real life‹ betreten, und seien es Naturlandschaften, sind nicht zufällig so geworden, sondern bewusst gestaltet, designed. Für Videospielwelten gilt das umso mehr: hier ist alles gestaltet und auf eine bestimmte Erfahrung hin angelegt. Kein Gegner, kein Stein, kein Grashalm sind zufällig, wo sie stehen, sondern wurden bewusst dort platziert, wo der Spieler auf sie stoßen soll.
Trial and Error
Was diese Spielwelt von mir will, erfahre ich über das Ausprobieren. Viele Videospiele haben zwar, vergleichbar mit den Anleitungen bei Brettspielen, Tutorials, die mir den Einstieg in die Spielmechaniken erleichtern sollen. Doch das meiste muss der Spieler per trial and error herausfinden, während er mit der Spielwelt interagiert, bspw.:
»Dieser Boden ist tödlich, jene Wand ist undurchdringlich und für den Endgegner benötige ich eine besondere Waffe.«4
Eine Karte mag bei der Navigation helfen, doch welche Gebiete sicher sind und welche nicht, muss der Spieler selbst herausfinden. Wenn ich mich etwa in World of Warcraft aus dem Auenland-ähnlichen Wald von Elwynn über der Fluss hinüber zu den Ausläufern des Dämmerwalds wage, weil es dort so herrlich unheimlich ausschaut, muss ich schmerzhaft feststellen, dass es für mich als low-level-Noob noch nicht an der Zeit ist, tollwütige Terrorwölfe der Stufe 20 zu kloppen.

Herausforderungen & Quests
Und doch muss die Gefahr gesucht werden. Der bequeme Weg des geringsten Widerstands ist in Videospielen (wie auch im echten Leben) meist der falsche. Denn wenn die Aufgaben (Quests) und Widerstände zu einfach sind, sammle ich auch keine Erfahrung, die mich weiter voranschreiten lässt.
Die Spielwelt selbst ist dabei ein Akteur, eine Herausforderung:5 so muss man in klassischen WoW oft eine Viertelstunde lang gehen, um in eine neue Ortschaft zu kommen. Das erzeugt ein Gefühl von Weite und großen Distanzen und lässt zudem das Reittier, das man ab Stufe 40 erhält, als einen echten Fortschritt, einen wortwörtlichen game-changer, erfahren. Schnellreisen und Portale, die es in vielen Spielen gibt, sind zwar notwendig, verringern jedoch auch dieses Eindruck der Weite.
Ein weiteres Beispiel sind die Spiele der Souls-Reihe vom japanischen Entwickler FromSoftware: Dort erzeugen insbesondere vertikale Auf- und Abstiege wahlweise ein Gefühl von Erfolg oder Beklemmung. Wie im ersten Dark Souls (2011), wo der Spieler erst einen der höchsten Punkte erklimmt, um dort die Bells of Awakening zu läuten, ehe er in die Abgründe die Spielwelt steigen muss.

Die Reihe ist außerdem dafür bekannt, dass sie sich nicht scheut, Zugänge zu ganzen Landstrichen hinter versteckten Wänden zu verbergen, sodass nur wenige Spieler sie finden. Wer auskundschaftet und jeden Stein umdreht, wird belohnt.6 Herausforderungen bestehen also nicht bloß aus aktiven Gegnern, die es zu schlagen gilt, sondern auch aus passiven versteckten Elementen, die der Erkundung harren.7
3. Die Freude am Erkunden
Gute Videospiele sind erfüllt von der Sehnsucht nach Geschichten, Entdeckungen und Abenteuern. Während Bücher und Filme diese meist linear erzählen, gibt es in Videospielen bei allen vorgezeichneten Wegen eine gewisse Bewegungsfreiheit (sonst wäre es ja kein Spiel, sondern eine bloße Videosequenz).
Geschichten mit Bewegungsfreiheit
Videospiele haben narrative (erzählerische) und ludische (spielerische) Elemente. Ein Narrativ mag lauten: ›Rette die Welt vor dem ersten Drachen und Weltenfresser Alduin‹; die entsprechenden ludischen Elemente sind: das Erlernen von Drachensprache, das Leveln anhand von Sternbildern, das Anfertigen von Rüstung usf., um dieses Ziel zu erreichen.
Der Spieler entscheidet, ob er erst die Hauptquest erledigt, oder sich nebenbei mit Holzhacken, Fischen oder dem Aufstöbern von Schätzen umtut. Gerade Open-World-Titel wie The Elder Scrolls sind auf die Spielweise ausgelegt, stundenlang erkundet zu werden. Das eigentliche Spiel liegt hier nicht in der Hauptstory.
Eigene Wege gehen
Vorgegebene Pfade und Laufrichtungen lassen sich also auch verlassen und damit modifizieren. Spieler erklimmen in Videospielen alle möglichen Orte, auch solche, die von den Entwicklern vielleicht gar nicht dafür vorgesehen waren.
Wie im echten Leben kann man als ›digitaler Flaneur‹ Abkürzungen oder Umwege wählen,8 die Seele baumeln und sich von der Spielwelt inspirieren lassen:
»Ein digitaler Flaneur ist eine Figur in einem digitalen Spiel, die der Spieler abseits der offensichtlich formulierten ludischen und narrativen Spielziele durch die Diegese [hier: die etablierte Spielwelt] navigiert, um Elemente zu entdecken, die auf extradiegetischer Ebene zur Reflexion anregen.«9
Bleibende Eindrücke
Manchmal entstehen so tiefe Eindrücke, die wie bei einem guten Buch oder Film in Erinnerung bleiben. Wer wollte es z.B. je missen, einen digitalen Fuß in Spielwelt von Skyrim (2011, Bethesda) gesetzt zu haben?
Andere Spiele wiederum bleiben auf andere Weise in Erinnerung, wie das im Bild zu sehende NEVA (2024, Nomada Studio), das nur eine Spielzeit von drei Stunden hat. Es erzählt eine berührende und tieftraurige Geschichte über Elternschaft und Verlust. Bei solchen Spielen sind es weniger die spielerischen Elemente, die vom Spielerlebnis in Erinnerung bleiben, als vielmehr die Schönheit und die Tiefe ihrer Geschichte.

Beim nächsten Mal wird uns die Freude am Erkunden aus der Gaming-Höhle wieder an die frische Luft führen, wenn wir das Wandern und Reisen betrachten.
Gottes Segen und bis bald,
GamesCoop, Theorien des Computerspiels zur Einführung, Hamburg: Junius 2012 [zur Einführung 391], S. 105.
Doch auch nicht zu immersiv. Der Spieler muss wie in ein gutes Buch oder einen Film abtauchen können, ohne sich darin zu verlieren. Darin scheint auch eine Schwäche der Virtual Reality zu liegen: sie ist zu immersiv.
Le Breton, David, Lob des Gehens, übers. v. Milena Adam, Berlin: Matthes & Seitz (3. Aufl.) 2024 [MSB Paperback 16], S. 15.
Runzheimer, Bernhard, Die digitale Flanerie als reflexive Raumexploration im Computerspiel, in: ffk Journal (2/2017), S. 288-304, hier S. 289.
In vielen Strategiespielen muss man erst einen Späher in den ›Nebel des Krieges‹ schicken, ehe man dort Infrastruktur errichten kann; die Exploration ist also notwendiger Bestandteil des Spielfortschritts.
Selbst da, wo nichts ist. So wurde in die Neuauflage von Shadows of the Colossus (2018, ICO) ein von Internet-Legenden umranktes Schwert eingefügt, nach dem Spieler in der Originalversion (vergeblich) gesucht hatten.
Vgl. Runzheimer, Die digitale Flanerie, S. 292: »Ich schlage daher vor, sowohl aktive feindliche als auch passive versteckte Elemente unter dem Begriff Herausforderungen zu subsumieren, […].«
Vgl. de Certeau, Michel, Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988, S. 190: »Wenn es also zunächst richtig ist, daß die räumliche Ordnung eine Reihe von Möglichkeiten (z.B. durch einen Platz, auf dem man sich bewegen kann) oder von Verboten (z.B. durch eine Mauer, die einen am Weitergehen hindert) enthält, dann aktualisiert der Gehende bestimmte dieser Möglichkeiten. Dadurch verhilft er ihnen zur Existenz und verschafft ihnen eine Erscheinung. Aber er verändert sie auch und erfindet neue Möglichkeiten, da er durch Abkürzungen, Umwege und Improvisationen auf seinem Weg bestimmte räumliche Elemente bevorzugen, verändern oder beiseite lassen kann.«; vgl. ebd., S. 188: »Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen. Sie weben die Grundstruktur von Orten.«
Runzheimer, Die digitale Flanerie, S. 293.