
In den letzten beiden Essays hatten wir uns mit der Kleidungsform der Rüstung beschäftigt und waren dazu auch in das Reich der Geschichte und der Fiktion eingetaucht. Heute springen wir ins gegenwärtige 21. Jahrhundert und beschäftigen uns mit jener Kleidungsform, um die sich heute alles dreht: die modische Kleidung.
Nicht jede Kleidung ist modisch.1 Und sie muss es auch nicht sein (manchmal überwiegt die Funktion). Doch bestimmt die Mode maßgeblich, wie wir uns kleiden, darum wollen wir zunächst einen Blick darauf werfen, was Mode ist (1), dann einige Probleme beim sich kleiden benennen (2), und abschließend auf den Stil zu sprechen kommen, der vielleicht das rechte Maß in all dem findet.
1. Modische Kleidung
Das Wort ›Mode‹ (lat. modus) bedeutet ›Art und Weise‹, ›Regel‹ oder ›Maßstab‹. Eine Mode gibt also Maßstäbe vor, zumindest für eine bestimmte Zeit. Solche saisonale Mode kennen wir aus der Kleidungsindustrie, doch kann im Grunde alle Kultur Teil einer Mode werden (etwa modisches Wohnen, modische Haarschnitte usf.).
Moden entstehen nicht zufällig, denn die Mode ist ›ein Kind von Wirtschaft und Kultur‹2 und als solche von den ökonomischen Interessen der Modeschaffenden gesteuert sowie vom Gestaltungswillen des Designer. Doch wirken auch die Konsumenten durch ihr ›Aufspringen auf den Zug‹ an diesem Prozess mit, sonst würde sich ja nichts verkaufen. Für Mode braucht es ein Kollektiv, das sie mitträgt. Ein Individuum kann nicht modisch sein.
Darüber hinaus gelten für die Mode gewisse Gesetzmäßigkeiten, die sich wiederholen: der Modezyklus. Dieser besteht aus einer Kauf- und einer Gebrauchsphase. Der Markt expandiert, stabilisiert sich, sättigt sich und läuft dann aus. Erst wird Kleidung ein Trend, dann modisch, dann obsolet.3
Warum lassen sich Menschen auf diesen Zyklus ein? Was verspricht man sich davon, wenn man modisch gekleidet ist? Der Modebewusste will zweierlei: sich anpassen (ans Kollektiv) und sich abheben (als Individuum). Hinzukommt, dass Mode auch jener Grundfunktion von Kleidung entspricht, die wir schon erwähnt hatten: dem Schmuck. Mode ist Schmuck, da sie keine Notwendigkeit, sondern ein Beiwerk ist, ein ›nice-to-have‹, eine Verzierung, ein Ornament.4
Nun kann ein Mensch es jedoch (wie beim Wohnen) mit Schmuck, Pracht und Dekoration auch übertreiben. Hörigkeit der Mode gegenüber ist noch kein Garant dafür, gut gekleidet zu sein. Wenden wir uns also nun einigen Problemen zu, die mit der modischen Kleidung verwoben sind.
2. Probleme der Mode
a) sich ausstaffieren
Das erste Problem mit modischer Kleidung besteht darin, dass es bekanntlich schnell zu viel des Guten wird. Der Geldbeutel und auch die Nerven machen es nicht mit, wenn es stets nur das Neuste vom Neusten sein darf. Denn seit mit der Konsumrevolution im 18. Jahrhundert die Konfektion (die Serienfertigung von Kleidung) die Maßschneiderei und Handarbeit abgelöst hatte, steht die Mode heute zunehmend unter dem Diktat der Beschleunigung.
Einst konnten Marken wie Zara die fast fashion etablieren, also mehrere neue Kollektionen pro Woche liefern, heute leisten im Sinne der super fast fashion Marken wie Shein das jeden Tag, sodass die willfährigen Werbekörper des Influencer-Marketings sich für jedes neue TikTok-Video im Sekundentakt in neuen Polyestermüll aus China hüllen können.
Viele produzierte Kleidung landet bekanntlich ungetragen auf dem Müll, oder verschwindet ebenso ungetragen im Kleiderschrank. 60 neue Kleidungsstücke soll jede Privatperson in Deutschland jährlich erwerben. Das Maß der Mode erweist sich also als maßlos. Shop till you drop.
Getrieben wird das Rat dieses rastlosen Konsums unter anderem von dem Versprechen, dadurch ›man selbst zu sein‹ und dieses Selbst ausdrücken zu können. Doch geht es in den sozialen Medien ja schon länger nicht mehr um Authentizität, sondern um Profilizität (Hans-Georg Moeller).5 Die Influencer putzen sich ja primär heraus, um ihr Profil zu – wie wir sagen – ›pflegen‹ (als wäre es lebendig...). Sie sind sich selbst Mittel zum Zweck ihres eigenen Idols im Profil. Authentizität ist darin gar nicht möglich.
b) sich ausstellen
Durch ständige modische Inszenierung kann man sich zwar eine äußerliche Identität geben, doch das Selbst bleibt davon unberührt. Man ›stopft sich aus‹, nur nicht von innen, sondern von außen. Die Leere wird nicht gefüllt, sondern umhüllt. Man webt sich eine leere Hülle, mit Labeln zugeklatscht, ein ausstaffierte Oberfläche, doch ohne Schmuck im Innen.6
Diese Sorge um den ›Putz‹, wie man es früher nannte, kann Menschen zugrunde richten, was man gegenwärtig insbesondere an jugendlichen Mädchen beobachten kann, und auch als Kultur toxisch werden.7 Besonders problematisch wird es, wenn Menschen sich nicht bloß darstellen, sondern sogar ausstellen.
Der Philosoph Byung-Chul Han schreibt:
»Die Welt ist heute kein Theater, in dem Rollen gespielt und rituelle Gesten ausgetauscht werden, sondern ein Markt, auf dem man sich entblößt und ausstellt. Die theatralische Darstellung weicht der pornografischen Ausstellung des Privaten.«8
Diese Entblößung und Selbstausstellung führt zu einer dauernden Selbstbeobachtung und Sorge, obschon wir doch, wenn wir uns an die Worte Jesu erinnern, in unserer Würde sorglos sein dürfen wie die Lilien, die Gott kleidet (vgl. Matthäus 6,28f).
c) sich absondern
Ein drittes und letztes Problem ergibt sich aus dem Status- und Geltungsbedürfnis, das die Mode adressieren kann. Denn obschon sich der Modebewusste ja unterwirft (eben der Mode), kann er das tun, um sich gerade über andere zu erheben. Kleidung kann auch benutzt werden um eine Grenze zu kommunizieren, um sich von anderen abzuheben und abzusondern.
Mode kann eine Barriere schaffen. Hier in Wien komme ich regelmäßig an den Filialen des Luxusunternehmen im ersten Bezirk vorbei, die ja bereits wie Festungen samt Türsteher inszeniert sind. Nur ›besser Betuchte‹ dürfen hier eintreten. Doch auch wer sich durch Luxusmode absondert und Reichtum inszenieren will, sitzt letztlich einer Lüge auf. Die Verdammten in den Gerichtsszenen sind nackt dargestellt.
Ein Exkurs zu Sonnenbrille & Kopfhörer
Zwei alltägliche Beispiele für Barrieren in der Kleidung wären übrigens die allgegenwärtigen Accessoires Sonnenbrille und Kopfhörer. Beide können ›cool‹ wirken (Kopfhörer vielleicht nur, wenn sie ›flex‹ sind wie die kostspieligen AirPods von Apple). Doch wirken sie darin auch ›kühl‹, distanziert. Denn sie erkaufen ihre Abschottung von der Umwelt, die sie abgehoben macht, indem sie die Sinne einschränken. Darum gelten beide (zurecht) als unhöflich, weil sie zwei wesentliche Mittel der Kommunikation einschränken, einmal den Blickkontakt, einmal den Hörsinn. (Bei der Sonnenbrille kommt sogar ein Machtgefälle hinzu, da die Person mit der Sonnenbrille ja selbst undurchschaubar bleibt, jedoch die Augenbewegung des anderen sehr wohl sehen kann.)
Soweit zu den Problemen mit der lieben Mode. Wenden wir uns nun abschließend der Frage zu, wie es möglich ist, Mode sinnvoll zu integrieren und stilvoll zu genießen.
3. Die Tugend des Stils
Stil ist die Tugend, sich gut zu kleiden zu können. Stil ist mehr als Modebewusstsein, da er sich nicht bloß nach dem Buchstaben-Gesetz der Modeindustrie richten muss, sondern selbst wählen und entscheiden kann, was zu ihm passt. Er kann also das, was der bloß Modische nicht kann: authentisch sein.
Wie jede Tugend ist auch der Stil mit anderen Tugenden verwoben und ganz schön voraussetzungsreich. Guter Geschmack, ein Sinn für Farben und Formen, ein Gespür für soziale Anlässe usf. sind Eigenschaften, die der Stil kultiviert.
Zudem setzt stilvolle Kleidung ein höheres Maß an Selbsterkenntnis voraus, als sich bloß mit modischen Marken zuzukleistern. Denn nicht jede Mode passt zu mir. Anstelle aller ›fear of missing out‹ hat der Stil also den Mut, nicht alles mitzumachen und auch mal einen Trend links liegen zu lassen.
Darin liegt eine Befreiung, wie im Bild oben, wenn Vater und Sohn ihren neumodischen Fummel an den Nagel hängen und über sich selbst lachen können, um anschließend wieder ihrem bewährten Stil treu bleiben.9
Freilich sollte die Aussage ›Es passt halt zu mir‹ oder ›Ich fühle mich so wohl‹ – meistens von Männern vorgetragen ;-) – nicht als Vorwand dienen, keinerlei Wert auf modische Standards zu legen, und das als individuellen Stil zu verkaufen. Man kann Stillosigkeit auch tiefsinnig verbrämen: ›Ich sehe ja bloß von mir ab‹ – mag sein, aber die anderen müssen einen ja schließlich ansehen.
Zudem ist stilvolle Kleidung auch jenen, denen jegliches ästhetische Bewusstsein abgeht (Männer, hört zu ._.), nicht verwehrt. Einfache etablierte Regeln (der Gürtel sollte farblich zu den Schuhen passen, die Schulternaht sollte auch auf der Schulter sitzen usf.) können schon helfen, effektiv den Eindruck zu erwecken, man hätte Stil. Auch Dresscodes sind dann keine Dressur mehr, sondern geben Sicherheit, nicht over- oder underdressed durchs Leben zu gehen. Aufwendig muss das ganze auch nicht sein, sofern man seinen Kleiderschrank bewusst gestaltet, sodass alles zueinander passt (Stichwort: capsule wardrobe).
Gelassenheit und Sorglosigkeit (wie Jesu Lilien) bei gleichzeitiger Kreativität und Gestaltungsfreude machen den Stil zu einer Tugend, in der der Mensch sich selbst ausdrücken und Gott und den Nächsten mitteilen darf.10
Schließen wir mit dem hl. Franz von Sales und seinem Ratschlag für einen guten Stil:
»Ich für meinen Teil wünsche, dass der fromme Mann, die fromme Frau stets die bestgekleideten aber am wenigsten auffallenden und aufgeputzten in ihrer Umgebung seien; […].« (Philothea III,25)11
Gottes Segen und bis nächste Woche, Maximilian Maria
Vgl. Ebner, Claudia C., Kleidung verändert. Mode im Kreislauf der Kultur, Bielefeld: transcript 2007 [Cultural Studies 23], S. 16: »(Bekleidungs-)Mode ist immer Kleidung, Kleidung aber nicht immer (Bekleidungs-)Mode.«
Vgl. Ebner, Kleidung verändert, S. 76.
Vgl. Ebner, Kleidung verändert, S. 33.
Ein Ornament hebt einen Gegenstand von anderen ab und gibt ihm ein Alleinstellungsmerkmal, ohne die Funktion des Gegenstands zu erhöhen (wie etwa Schnitzwerk im Griff eines Dolches).
Vgl. Moeller, Hans-Georg/D’Ambrosio, Paul J., You and Your Profile. Identity After Authenticity, News York: Columbia University Press 2021.
Vgl. 1. Timotheus 2,9f; 1. Petrus 3,3f.
Denken wir allein an das scheußliche Wort ›make-up‹.
Han, Byung-Chul, Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, Berlin: Ullstein (4. Aufl.) 2019, S. 30; vgl. ebd., S. 29: »Aus der Mode der jeweiligen Gesellschaft lässt sich deren Verfasstheit herauslesen. So bildet sich die zunehmende Pornografisierung der Gesellschaft in der Mode ab. Es wird mehr Fleisch gezeigt als Formen.«
An der Zeichnung ist zudem charmant, dass Großvater und Urgroßvater hier gerade nicht altmodisch sind, vielmehr als Stimme der Tradition das Neumodische humorvoll entlarven können. Alle sind ja in sehr individuell und stilvoll gekleidet.
Lillian Fallon von Ascension Presents hat einige Beiträge zum Thema Würde und Kleidung aus christlicher Sicht. Hier ein Link zur Playlist: <https://www.youtube.com/playlist?list=PLeXS0cAkuTPofydGcF8-hblPTww-pFY-m> [Abruf: 15.12.2023].
Franz von Sales spricht auch anderer Stelle über die Bescheidenheit: »Darüber wäre zu sagen, daß man sich vor Unsauberkeit und Schlamperei ebenso in acht nehmen soll wie vor dem anderen Extrem, der übertriebenen Sorgfalt, die darauf ausgeht, sich herauszuputzen und wie ›aus dem Ei geschält‹ zu sein.« (Franz von Sales, Geistliche Gespräche, übers. v. Franz Reisinger, Eichstätt/Wien: Franz-Sales-Verlag 1958 [Werke 2], S. 128); vgl. zur Bescheidenheit auch 1. Timotheus 6,7f.