
Das Bild des Renaissancemalers Raffael zeigt einen schlafenden Ritter. Im Traum wird ihm, neben Blume und Buch, ein Schwert gereicht.
Wer ein Schwert führt, muss auch das Schwert fürchten. Es ist historisch die erste Waffe, die allein für das Töten von Menschen bestimmt war (anders als Äxte, Speere, Schleudern usf., die auch als Werkzeuge oder für die Jagd dienen können). Hier mischt sich in das Bild des Schlafes ein Symbol des Tötens. Diese Verbindung von Schlaf und Tod werden wir heute betrachten.
1. Schlafes Bruder
Wir hatten schon gesehen, dass in der griechischen Mythologie Hypnos (Schlaf) und Thanatos (Tod) Brüder sind. Ihre Mutter Nyx (Nacht) trägt als Attribut eine Fackel, jedoch nach unten geneigt, als Zeichen für den Tod.
Schlaf und Tod
Dass Schlaf und Tod als Brüder auftreten, trägt dem medizinischen Umstand Rechnung, dass die meisten Menschen tatsächlich im Schlaf sterben. Die meisten Menschen geben heute auch an, im Schlaf sterben zu wollen. Im Mittelalter hingegen wurde gerade das als das größte Unglück angesehen: abzusinken in den Tod, ohne waches Gebet, ›unversehen‹ (das heißt ohne das Sakrament der Krankensalbung).
Schlafende und Tote sehen einander ähnlich. Nur ein leises Atmen oder das Heben der Brust mag den Unterschied markieren, ob jemand bloß einmal mehr oder zum letzten Mal die Augen geschlossen hat.1
Eine weitere Verbindung von Schlaf und Tod erleben wir allabendlich. Denn wie im Tod, müssen wir auch bei jedem Einschlafen loslassen. Wir verlassen unser bewusstes Selbst und finden uns plötzlich beim Erwachen wieder.
Nächtliche (Toten)Reise
Dieses Aufwachen gleicht einer Auferstehung, denn es geschieht ja ohne unser bewusstes Zutun. Das Aufstehen mag eine Leistung sein, aber das Aufwachen haben wir nicht in der Hand (außer über ein Tool wie den Wecker). Über das Aufwachen waltet jemand anders, wie es im Wiegenlied Guten Abend, gut’ Nacht heißt:
»Morgen früh, wenn Gott will, / wirst du wieder geweckt.«
Bei diesen etwas unheimlichen Versen werden sich wohl die meisten Kinder gefragt haben: ›Und was, wenn er nicht will?‹2 Hier wird deutlich, dass es für das Aufwachen nie eine Garantie gibt; von der Wiege bis zur Bahre. Der Schlaf schluckt uns, doch ob er uns auch wieder ausspuckt, ist eine andere Frage.

Die ägyptische Mythologie beschreibt die allnächtliche Reise sogar als einen Kampf: Der Sonnengott Re muss jede Nacht die Unterwelt durchqueren (Sonnenuntergang); die Chaosschlange Agep greift seine Barke an; Re beißt ihr als Katze den Kopf ab – wenn er scheitert, wird es das Weltende sein. Die Azteken brachten jeden Tag Menschenopfer dar, damit die Sonne wieder aufgehen möge – vielleicht die schrecklichste Verbindung von Tod und Schlaf.
Die Assoziationen von Schlaf und Tod sind also vielfältig. Betrachten wir nun die christliche Deutung dieser Verknüpfung.
2. Todesschlaf
Auch der christliche Glaube verbindet Tod und Schlaf, jedoch weder kämpferisch noch blutrünstig, sondern friedlich.
Die Komplet
Mehrere Texte des kirchlichen Abendgebets, der Komplet, weisen darauf hin – etwa folgende Verse:
»Schon wirft die Erde sich zur Nacht / des dunklen Mantels Falten um. / Der Schlaf, des Todes sanftes Bild, / führt uns dem Grab des Schlummers zu.«
Im Nunc dimittis besingt der greise Simeon seine Dankbarkeit darüber, dass Gott ihn nun ›in Frieden scheiden‹ lässt (vgl. Lukas 2,29-32). Und das Responsorium ›In Deine Hände lege ich mein Leben‹ zitiert die Todesworte Jesu am Kreuz, wie sie Lukas überliefert (vgl. Lukas 23,46 sowie Psalm 31,6). Schlaf und Tod werden also in den Texten der Komplet miteinander verbunden, besonders eindrücklich im abschließenden Gebet:
»Eine ruhige Nacht und ein gutes Ende [= einen guten Tod] / gewähre uns der allmächtige Herr. Amen.«
Neben dieser Aussöhnung von Schlaf und Tod gibt es jedoch auch eine Problematisierung des Schlafes, die ihn in die Nähe der Sünde rückt, dem Tod der Seele.3 Im Mittelalter wurde besonders der Tagschlaf als lasterhaft und als Zeichen für die Todsünde acedia (Trägheit) gedeutet (noch heute kennen wir ›Penner‹ als diffamierenden Ausdruck).
Todesschlaf im Alltag
Vor aller moralischen Bewertung kennen wir den Schlaf als eine todesähnliche Trägheit durchaus aus dem Alltag. Schwermütige wissen, dass der Schlaf nicht unschuldig ist. Träume können als einlullende Regression dienen; ein Zurück-sinken, ein Weg-Dämmern. Die Sehnsucht des Depressiven nach der ewigen Nacht.
Schlafsucht als stumpfe Versunkenheit gleicht einem vorgezogenen Selbstmord auf Raten, einem Abgesang an das Leben. (Im Jugendarrest sagte mir ein Jugendlicher: ›Ich warte eigentlich nur noch auf den Tod‹ – als Jugendlicher noch ein langer Weg.)
Die Tagträume und das Grübeln (die Rumination, wie es die kognitive Verhaltenstherapie nennt) kommen als Coping-Strategien hinzu, die nur weiter ans Bett fesseln und im eigenen Saft schmoren lassen. Augenzwinkernd drückt es Buch der Sprichwörter aus:
»Die Tür dreht sich in ihrer Angel / und der Faule in seinem Bett.« (Sprüche 26,14)
Auch Augustinus, der im 4. Jahrhundert noch keinen Wecker mit Snooze-Funktion kannte, verknüpft in den Confessiones die Erfahrung, einfach nicht aus dem Bett zu kommen, mit dem Stumpfsinn der Sünde:
»So drückte mich denn, wie im Traum, die Last der Welt auf sanfte Art, und meine Gedanken über dich [Gott] waren wie die eines Menschen, der aufwachen will, der aber, von tiefer Benommenheit besiegt, in Schlaf zurücksinkt. Und obwohl es niemanden gibt, der immer schlafen möchte, und jeder Besonnene das Wachen dem Schlafen vorzieht, so verschiebt der Mensch es doch oft, den Schlaf endgültig abzuschütteln, wenn die Glieder noch wie betäubt sind. Zwar ist er schon so weit, dass ihn das erneute Einschlafen ärgert, aber der Schlaf holt ihn umso lieber ein, als längst Zeit ist zum Aufstehen.« (Augustinus, Confessiones, VIII,12 [S. 373])
Wenden wir uns zum Schluss noch der gewichtigsten Frage zu: nämlich ob es auch im Tod – im wirklichen Tod – ein Erwachen geben wird.
3. Wir sehen uns am Morgen
Wenn wir euphemistisch sagen, jemand sei ›entschlafen‹, meinen wir: er ist gestorben. Doch wie können wir uns das vorstellen?
Schlafen die Toten?
Christlich gesehen, sind die Toten nicht endgültig tot. ›Wir werden uns wiedersehen‹ oder ›Sie ist jetzt an einem besseren Ort‹; das sind keine Sätze, die eine Christin oder ein Christ aus bloßer Hilflosigkeit bei einer Trauerfeier spricht, sondern Glaubenssätze. Wir werden uns wiedersehen – bei Gott (à-dieu).
Die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten ist christliches Glaubensgut, obschon die Konfessionen den Zustand der Toten unterschiedlich denken. So ging Luther davon aus, dass die Toten tatsächlich in einer Art Schlaf liegen, während die katholische Lehre einen Zwischenzustand kennt – das Purgatorium/Fegefeuer –, der durch Wachheit sowie ein (zeitlich begrenztes) Leiden gekennzeichnet ist.
Der protestantische Theologe Jürgen Moltmann schreibt (gegen Luther):
»Die wir ›die Toten‹ nennen, sind nicht verloren. Sie sind aber auch noch nicht endgültig gerettet. Sie sind mit uns, die wir leben, in der gleichen Hoffnung geborgen und darum mit uns auf dem Wege in die Zukunft Gottes. Sie ›wachen‹ mit uns und wir ›wachen‹ mit ihnen. Das ist die Hoffnungsgemeinschaft der Toten mit den Lebenden und der Lebenden mit den Toten.«4
Diese Hoffnungsgemeinschaft bleibt bis zur Vollendung eine Leidensgemeinschaft. Die Lebenden auf der Erde und die Toten im Zwischenzustand leiden an dem, was noch an Bösem in der Welt und in uns ist.
Der Traum des Gerontius
In seiner Dichtung Der Traum des Gerontius schildert der heilige John Henry Newman eine Jenseitsreise durch das Fegefeuer. Gerontius (griech. gerontos = Greis), der für uns alle steht, bekommt (wie Dante mit Vergil) einen Beistand: seinen Schutzengel. Dieser spricht über den Schmerz im Zwischenzustand:
»Erkenne, daß die Flammen ew’ger Liebe / Verbrennen müssen, ehe sie verwandeln.«5
Über das Fegefeuer wird sich oft lustig gemacht. Doch gehört es meiner Meinung nach mit zum Tröstlichsten und Humansten des katholischen Glaubens. Denn es nimmt den Menschen ernst in seiner Hoffnung auf Erlösung und in seinem Schmerz über das noch Unfertige, Vertane, Versagte. So spricht Gerontius zum Schutzengel:
»Nimm mich hinweg und in der tiefsten Tiefe / O laß mich sein, / In Hoffnung die einsamen Nächte wachen / Bestimmt für mich. / Dort glücklich in der Pein, wiewohl allein, / Doch nicht verlor’n, – / Sing’ unaufhörlich ich mein traurig Lied, / Bis Morgen ist.« (Ebd., S. 45f)
Als der Engel die Seele in »der dunklen Wasser bittre Flut« (ebd., S. 47) getaucht und gesehen hat, wie sie in der Tiefe versinkt, spricht er zum Abschied:
»Leb wohl! Doch nicht für immer, Bruder mein! / Sei tapfer, duld auf deinem Bett der Sorgen, / Rasch wird der Läuterung Nacht vorüber sein, / Dann komm’ ich wieder. Ich hole dich am Morgen.« (Ebd., S. 48)
Hoffnungsgemeinschaft
Das ›gute Ende‹ des Todes ist gut, weil es selbst ein Ende haben wird. ›Glücklich in der Pein‹, können die Verstorbenen und die Lebenden sein, da es einen Morgen geben wird. Der Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar hat diese ›Freude im Feuer‹ einmal unübertroffen ausgedrückt in dem schlichten Satz:
»Diesmal werde ich es schaffen.«
Dabei meint dieses ›Schaffen‹ kein verkrampftes Leisten mehr, sondern sich fallen zu lassen in die Tiefe, ein Versinken in der Liebe – wie Gerontius. Über die letzte Schwelle – die Auferstehung – werden wir auch nicht ›hetzen‹, sondern getragen werden. In einem lyrischen Gebet beschreibt es von Balthasar:
»Niemand sah die Stunde deines [Jesu] Sieges. Niemand ist der Zeuge einer Weltgeburt. Niemand weiß, wie sich die Nacht der Samstagshölle wandelte ins Licht der Osterfrühe. Schlafend wurden wir alle auf Flügeln über den Abgrund getragen, schlafend empfinden wir die Ostergnade. Und keiner weiß, wie ihm geschah. Keiner, welche Hand ihm über die Wange strich, daß plötzlich die fahle Welt in bunten Farben erstrahlte und er lächeln mußte, ohne es zu wollen, über dem Wunder, das sich an ihm vollzog.«6
Im Abendlied Du lässt den Tag, o Gott, nun enden heißt es:
»Am Abend unsrer Lebenswende / geleite uns aus Raum und Zeit, / geborgen fest in deine Hände, / ins Morgenlicht der Ewigkeit.« (Gotteslob, Nr. 96)
Gottes Segen und bis nächste Woche,
Jedoch wird auch berichtet, dass Tote durch die Leichenstarre rasch ihr menschliches Antlitz einbüßen und eben als ›Leiche‹ wahrgenommen werden, nicht mehr als lebendiges Gegenüber wie ein Schlafender (sterben und erstarren haben dieselbe Wurzel).
Auch die zweite Strophe bewahrt zwar die liebevolle Grundstimmung, doch verbindet eindeutig den Schlaf mit dem Himmel (und damit implizit mit dem Tod): »Guten Abend, gut’ Nacht, / von Englein bewacht, / die zeigen im Traum / dir Christkindleins Baum. / Schlaf nun selig und süß, / schau im Traum ’s Paradies.«
Am Freitag wird in der Komplet der düsterste Psalm der Bibel gebetet, Psalm 88. Dort heißt es u.a.: »Ich bin zu den Toten hinweggerafft, wie Erschlagene, die im Grabe ruhen«. Und: »Mein Vertrauter ist nur noch die Finsternis.«
Moltmann, Jürgen, Im Ende – der Anfang. Eine kleine Hoffnungslehre, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (3. Aufl.) 2007, S. 131.
Newman, John Henry Kardinal, Der Traum des Gerontius, übers. v. Theodor Haecker, Freiburg: Herder (3. Aufl.) 1952 [Zeugen des Wortes], S. 35.
von Balthasar, Hans Urs, Das Herz der Welt, Ostfildern: Schwabenverlag (4. Aufl.) 1988, S. 117.