
Die Kleidung wollen wir betrachten, oder – wie man hier in Wien so charmant sagt – ›das G’wand‹. Beginnen wir mit einer weit ausholenden Frage: Warum macht der Mensch sich Kleidung? Die ebenfalls weit ausholende Antwort: Weil er nackt ist. Wer also von der Kleidung des Menschen sprechen will, muss auch von seiner Nacktheit sprechen.
Das können wir aus verschiedenen Blickwinkeln tun. Blicken wir etwa aus der Perspektive der Evolutionsbiologie, könnte sie uns davon berichten, wie der Mensch im Laufe seiner Entwicklung sein Fell gegen andere Vorteile eintauschen konnte, indem er sich Kleidung machte (vorzugsweise aus dem Fell anderen Tiere). Oder davon, wie er durch Kulturtechniken wie die Bezähmung des Feuers seine Nacktheit ausgleichen konnte. (Die kulturgeschichtliche Sicht wird uns noch weiter begleiten.)
In diesen Betrachtungen blicken wir mit den Augen der Theologie auf die Sache. Aus ihrem Blickwinkel beginnen Nacktheit und Kleidung des Menschen dort, wo auch sprichwörtlich alles begann: bei Adam und Eva – im ersten Buch Mose. Die Ursprungserzählung des Menschen, die dort in den Schöpfungserzählungen sowie im Sündenfall beschrieben wird, gibt uns – weniger als historischer Tatsachenbericht, denn als anthropologischer und theologischer Text – Aufschluss über die Beziehung von Gott und Mensch, in der auch die Kleidung eine wichtige Rolle spielt.
Im Garten Eden
Rufen wir uns also paraphrasierend einige der entscheidenden Stellen aus der Heiligen Schrift noch einmal vor Augen und versetzen uns in den Garten Eden.
Am Anfang ist alles harmonisch und heil.
»Beide, der Mensch und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.« (Genesis 2,25)
Bald jedoch kommt es zu einer unheilvollen Begegnung. Die Schlange verführt die Menschen zur Sünde; sie ›fallen‹ und erwachen in einer neuen Seinsweise.
»Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.« (Genesis 3,7)1
Doch nicht nur einander sind Adam (Mensch) und Eva (Leben) nun entfremdet, auch vor Gott schämen und verstecken sie sich. Als Gott Adam aufsucht und anspricht, antwortet dieser:
»Ich habe deine Schritte gehört im Garten; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich. Darauf fragte er [Gott]: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich dir geboten habe, davon nicht zu essen?« (Genesis 3,10f)
Adam versucht daraufhin, die Verantwortung an seine Frau abzuschieben, und diese wiederum an die Schlange. Scham, Misstrauen und Zwietracht sind in die Welt gekommen. Die heile Beziehung ist dahin. Das Gewahrwerden der körperlichen Nacktheit drückt diesen inneren Bruch aus, die existentielle Blöße, die Scham vor Gott und voreinander, die fortan zur Grundbefindlichkeit des gefallenen Menschen gehören wird.
So weit, so schlecht. Doch Gott sei Dank bleibt es nicht dabei. Denn die Genesis bereitet ja nur die Bühne, schlägt die erste Seite auf für das, was noch kommen soll. Gott wird zuletzt die zerbrochene Beziehung heilen und die Blöße des Menschen bedecken. Einen ersten Ausdruck dieser Fürsorge gibt noch die Genesis selbst:
»Gott, der HERR, machte dem Menschen und seiner Frau Gewänder von Fell und bekleidete sie damit.« (Genesis 3,21)
Bleiben wir für den Moment bei Adam und Eva. Denn um die Rolle der Kleidung im Buch Genesis verstehen zu können, müssen wir ein Paradox bemerken, das dem Text innewohnt:
»Vor dem Sündenfall gab es wohl Unbekleidetheit, aber diese Unbekleidetheit war noch keine Nacktheit.«2 »[N]ach der Heiligen Schrift trugen Adam und Eva zu Anfang keine Kleidung, aber sie waren nicht nackt.«3
So formuliert das Paradox Erik Peterson, der 1956 einige Essays zur Kleidung in seinen Marginalien zur Theologie veröffentlicht hat. Seiner sprachlich wie inhaltlich klaren Darstellung können wir folgen, um dem Paradox auf die Spur kommen.
Unbekleidet, doch nicht nackt
Adam und Eva können sich nur dann entblößt fühlen, wenn sie sich zuvor als gekleidet wahrgenommen haben, und das, obschon sie kein menschliches Gewand trugen.4 Sie waren also nackt im Sinne von unbekleidet, doch nicht bereits nackt im Sinne von entblößt. Wie die Schrift sagt: Sie schämten sich nicht.
Doch nach dem Sündenfall werden ihnen ›die Augen aufgetan‹ und sie bemerken, das sie etwas verloren haben, und nun entblößt sind.5 Wie wichtig der Verlust dieser ›unsichtbaren Kleidung‹ ist, sieht man daran, dass der Mensch nach dem Sündenfall, »keine andere Antwort findet, als sich ein Kleid zu machen«.6
Vor dem Sündenfall war etwas bedeckt, das nun aufgedeckt wurde. Etwas hat sich verändert. Dem Menschen erfährt sich als entfremdet von sich selbst und den anderen, ihm ist nicht mehr wohl in seiner Haut. Den Grund dafür beschreibt Peterson so:
»Der Leib war vor dem Sündenfall in einer anderen Weise für den Menschen da, weil der Mensch in einer anderen Weise für Gott da war.«7
Paradise lost – Feigenblätter und Felle
Von der gestörten Beziehung zu Gott her rührt also der Verlust jener ›unsichtbaren Kleidung‹. Denn Gott hatte den Menschen zwar körperlich nackt geschaffen, doch mit Gnade bekleidet.8 Im Paradies waren die Menschen von Gott in Gnade und Gerechtigkeit gehüllt – ein ›Paradieskleid‹. Wieder Peterson:
»Sie waren auch nicht mit den Lappen einiger Tugenden gekleidet, sondern sie besaßen die Gerechtigkeit selbst in ihrer persönlichen Existenz in ebenso realer Form wie ein Mensch ein Kleid, in der Kleidung sich selbst besitzt. Oder, um ein Bild zu gebrauchen, die Gerechtigkeit war sozusagen ihre Haut.«9
Dieses Gewand aus Gnade haben die Menschen verloren und versuchen nun, ein irdisches Tuch über ihre Blöße zu decken. Sie decken sich behelfsmäßig mit Feigenblättern zu. (Einige Kirchenväter bringen diese Blätter allegorisch mit dem unfruchtbaren Feigenbaum in Verbindung, den Jesus verflucht.10)
Ein Upgrade erhalten sie dann von Gott im Überreichen der Felle (s. auch im Bild). Doch sind diese ebenfalls noch kein Gewand, in dem der Mensch sich wieder paradiesisch wohl fühlen könnte, erinnern sie ihn als tote Tierhaut11 doch wiederum an seine Sterblichkeit, Nichtigkeit und Blöße. (Wiederum allegorisch wurde die Fellkleidung darum mit dem Gewand aus Kamelhaar Johannes des Täufers verbunden (vgl. Matthäus 3,4), der seinen Zeitgenossen ihre Sterblichkeit vor Augen hält.)
Auf der Suche nach dem Kleid
Es will also alles nicht recht passen. Das irdische Kleid genügt nicht. Egal, worin der Mensch sich hüllt (Erfolg, Leistung, Besitz usf.), er kann bloß seine Nacktheit kaschieren – in den Zustand der Gnade kann er sich nicht rückversetzten. Seine Gefallenheit haftet allem an:
»Das Kleid, das der gefallene Mensch trägt, ist ein ›Standeskleid‹, denn es bringt den status [den Stand] seiner gefallenen Natur zum Ausdruck. […] Es ist ein ›bürgerliches‹ Kleid, das wohl Ehrbarkeit, aber nicht Unschuld, Rechtschaffenheit, aber nicht Gerechtigkeit auszudrücken vermag.« (S. 14)
Gerade dieses Ungenügen der Kleidung, hält die Erinnerung an die Gnade offen:
»Kurz, das Kleid, das der gefallene Mensch trägt, ist Andenken an das verlorene Kleid, das der Mensch im Paradies getragen hat.« (S. 14)
Wie oben angedeutet, wird es bei diesem nachtrauernden Andenken nicht bleiben. Denn Gott gibt, indem er Adam und Eva die Felle schenkt, ein Hoffnungszeichen:
»Und doch ist dieses Kleid aus Tierhäuten von der Hand Gottes gemacht. Es ist nicht wie das Kleid des Feigenblattes ein Werk des gefallenen Menschen, eine Erfindung des schlechten Gewissens. Nein, in den Kleidern, die Gott für den Menschen macht, deutet sich schon das Versprechen an, daß wir das Kleid des Paradieses wiederfinden werden.« (S. 25)
Am Ende der Betrachtungen zu Kleidung werden wir das Geheimnis um dieses wiedergefundene Paradieskleid hoffentlich fassen können.
Warum macht der Mensch sich ein Kleid? Weil er nackt ist. Weil er seine Blöße bedecken muss. Wie unsere menschliche Kleidung das diesseits von Eden tut, und welche zahlreichen anderen Funktionen damit verbunden sind, werden wir erkunden.
Gottes Segen und bis nächste Woche, Maximilian Maria
Übrigens lassen sich die Worte für ›nackt‹ (‘ārôm in Gen 2,25 und ‘êrom in Gen 3,7) mit ‘aram, ›klug, listig‹ verbinden: möglicherweise ein Hinweis auf die Schlange.
Peterson, Erik, Marginalien zur Theologie und andere Schriften, hrsg. v. Barbara Nichtweiß, Würzburg: Echter 1995 [Ausgewählte Schriften 2], S. 10.
Ebd., S. 21.
Vgl. ebd., S. 21: »Die wahre Nacktheit (die Scham hervorruft) ist nur eine Folge des Sündenfalles. Im Gegensatz dazu war das erste Menschenpaar vor dem Sündenfall nicht nackt, sondern nur unbekleidet, das heißt, es bedeckte sich nicht mit einem von menschlicher Hand geschaffenen Gewand. Und trotzdem wurden sie durch den Sündenfall entblößt, so daß die dann also bemerkten, daß sie nackt waren (Gen 3,7). Also waren sie vorher bekleidet. Das ist gewiß.«
Vgl. ebd., S. 11: »Die Nacktheit wird also ›bemerkt‹, während das Unbekleidetsein unbemerkt geblieben war.«
Ebd., S. 13; vgl. ebd.: »[I]n der ›Äußerlichkeit‹ dieser Reaktion kommt doch das Bewußtsein zum Ausdruck, daß der Mensch in seinem früheren Stande auch die Glorie, die er besessen hat, als ein Kleid getragen hat.«
Ebd., S. 11; vgl. ebd., S. 12: »Vor dem Sündenfall war der Mensch so für Gott da, daß der Leib – wenn auch kein menschliches Gewand ihn bekleidete – doch nicht ›nackt‹ war.«
Der Mensch ist unbekleidet geschaffen, doch er ist »in dieser Unbekleidetheit seiner Natur für die Bekleidung mit dem übernatürlichen Gewand der Glorie geschaffen worden« (Ebd., S. 13). In der Entblößung durch die Sünde, hat der Mensch »nicht nur die übernatürliche Bekleidung verloren, sondern auch die Unbekleidetheit seiner von Gott geschaffenen Natur an die ›Nacktheit‹« (ebd.).
Ebd., S. 22; vgl. ebd.: »Gott hat den Menschen nicht mit Kleidern geschaffen. Anders ausgedrückt: Gerechtigkeit, Unschuld und Ewigkeit sind der menschlichen Natur nicht zu eigen. Das soll aber trotzdem nicht bedeuten, daß Gott den Menschen nackt geschaffen hat. Der Mensch wird nackt durch seinen Willen, wenn er das Kleid verliert, für das seine unbekleidete Natur geschaffen war, wenn er die Tunika abwirft, die ihn seine Würde erkennen ließ.«
Vgl. ebd., S. 14, dort Anm. 13.
Zu den Übersetzungsmöglichkeiten vgl. Brandscheidt, Renate, Art.: »Nacktheit«, in: WiBiLex 2011, <http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/28635/> [Abruf: 25.10.2023].