
In den letzten beiden Essays haben wir betrachtet, wie der Mensch sich kleidet, und: wie er andere kleidet. Heute soll es schließlich um die Frage gehen, was es bedeutet, eingekleidet zu werden. Dazu unternehmen wir zunächst einen kleinen Lauf durch die Entwicklung des Menschen hinsichtlich seiner Kleidung.1
1. Die Kleidung des Kindes
Lesen wir die Erzählung von Adam und Eva entwicklungspsychologisch und biographisch, haben wir alle eine ganz ähnliche Geschichte wie die beiden hinter uns: als Kinder tollten wir unbekleidet im Garten herum und schämten uns nicht, als wir älter wurden, kam die Scham hinzu, und die Kleidung bekam zunehmend eine Relevanz für die eigene Identität. Doch beginnen wir am Anfang.
Am Beginn des Lebens steht die Initiative zum Ankleiden ganz im Auftrag der Eltern. Das Baby wird gewärmt und gewickelt, und muss zudem regelmäßig neu gewickelt werden, damit es sich nicht wund liegt. Wächst es dann heran und bekommt mehr und mehr Kleidungsstücke, lässt es die Konfektionsgrößen schnell hinter sich, und braucht stetig neue Kleidung (die dankenswerterweise häufig die Verwandtschaft aus irgendwelchen Kisten kramt).
Auch das Kleinkind wird noch von den Eltern eingekleidet. Wenn das Kind etwa zum Schlittenfahren oder Schneemannbauen hinaus will, wird es zuvor von der beflissenen Dienerschaft (genannt Eltern) sorgsam in Jacken, Schals und eine Mütze gepackt, bis es aussieht wie ein Michelinmännchen. (Umgekehrt kann man traurigerweise wiederum an Kleidung, die nicht an die Witterung angepasst ist, die Vernachlässigung eines Kindes sehen.)
Kinder erhalten also beim Anziehen Hilfe und werden mit situationsgemäß passender Kleidung ausgestattet. Jedoch kann es dabei mitunter schon zum Konflikt kommen, wenn es statt der Hose auf jeden Fall das Prinzessin Lillifee-Kleid sein muss, oder wenn man ohne gegürtetes Holzschwert unmöglich das Haus verlassen kann. Kleidung wird also auch von Kindern schon als Ausdruck der eigenen Identität gesehen, über die sie selbst bestimmen möchten, und sei es nur in der Auswahl der tagesaktuellen Verkleidung.
Spätestens der Teenager will sich dann nicht mehr von anderen einkleiden lassen und würde ein Kleidungsstück, das die eigenen Eltern für ihn oder sie ausgesucht haben, schon allein aufgrund dieser Tatsache als disqualifiziert und peinlich ansehen. So wird das Taschengeld fortan in Kleidung nach dem eigenen Geschmack bzw. dem der peer-group investiert. Im Nachhinein darf man dann froh sein, wenn von den stilistischen Verirrungen dieser Jugendphase später nur noch wenige Bilder existieren (ein klarer Vorteil noch meiner Generation gegenüber den nachrückenden Smartphone-Generationen).
Was die Kleidung angeht, werden wir also im Laufe unseres Lebens immer mündiger und bewegen uns von der Passivität hin zur Aktivität. Wir ›entwachsen den Kinderschuhen‹, wie man sagt, und werden: Erwachsene.
2. Die Kleidung des Erwachsenen
Kinder werden eingekleidet, Erwachsene kleiden sich selbst. Mitunter wünschte man womöglich, eine gnädige Ehefrau hätte ihren Gatten morgens darauf hingewiesen, dass die grabsteingroße graue Krawatte zum senfgelbem Hemd vielleicht keine gute Idee ist, doch bleibt es dabei: dem Erwachsenen legt niemand mehr die Kleidung heraus, er muss selbst zusehen, wie er sich kleidet.
Diese Mündigkeit in Sachen Kleidung gehört schlicht zum Erwachsenenwerden dazu. Doch birgt sie auch eine gewisse Gefahr: dass nämlich der Mensch mit seiner gewonnen Autonomie zugleich das Gedenken daran ablegt, dass er (als Kind) ein verwiesenes Wesen war. Die selbstgewählte Kleidung wird dann zum Symbol einer bloßen Selbstbehauptung und streift seine Beziehungsdimension ab. Man verfällt auf den Gedanken, man sei eine ›sich selbst setzende Existenz‹, bloß weil man gelernt hat, sich eine eigene Krawatte zu binden. Der Erwachsene kann allzu schnell verdrängen, dass er jeden Akt nur setzen kann, weil er zuvor jahrelang gefüttert, gewickelt und eben: gekleidet wurde. Der ›bloß Erwachsene‹, der die Verwiesenheit seiner Kindheit vermeintlich abgelegt und überwunden hat, hat sie lediglich: vergessen.
Sich selbst zu kleiden, kann als Ausdruck der Selbstgenügsamkeit sogar so gesteigert werden, dass es geschmacklos wird: wenn etwa ein Herrscher sich selbst krönt, oder wenn ein Ehepartner sich den Ring eigenhändig an die Hand steckt. In beiden Fällen wird die Verwiesenheit (auf eine höhere Macht sowie auf die Liebe des Partners) und damit die Beziehungsdimension übersprungen. Doch ist gerade das Wissen um die wechselseitige und bleibende Verwiesenheit (die Interdependenz), erst Ausdruck eines reifen Erwachsenen, der nicht vergessen hat, das er einmal Kind war und Kind bleibt.
3. Die Kleidung des erwachsenen Kindes
Zwischen Kindern und Erwachsenen gibt es eine wechselseitige Genese. Zuerst geht das Kind natürlich aus den Erwachsenen hervor – es wird von ihnen gezeugt, geboren und geborgen. Doch ebenso bringt das Kind seinerseits in seinem ›Erwachsen‹ ja den Erwachsenen erst hervor. Jeder Erwachsene ist aus einem Kind entstanden, das in einem gewissen Sinne viel ›älter‹ ist als er. Mit einem berühmten Vers von William Wordsworth (1770-1850) gesprochen:
»The child is the father of man.«
Wir hören also nie auf, Kinder zu sein.2 Und theologisch kommt noch hinzu, dass Jesus uns aufträgt, neu ›Kinder zu werden‹ (vgl. Matthäus 18,1-5) – was keine unmündige Regression zurück ins Kindische meint (wir sollen ja etwas ›werden‹, griech. ›γένησθε‹); vielmehr geht es um eine aktive Umkehr und Antwort. Wir sollen unsere Eltern hinter uns lassen, nicht um selbstherrliche Erwachsene, sondern um Kinder Gottes zu werden (vgl. Johannes 1,12f u.a.).
Die christliche Haltung dieses ›erwachsenen Kindes‹ wird folglich einem zweifachen Anspruch entsprechen müssen: sich kindlich gekleidet zu wissen und erwachsen Verantwortung zu schultern. Weder der kindische Erwachsene, der ständig bockt und jedes Joch abschütteln will, noch der selbstgenügsame Erwachsene, der keinerlei Ummantelung und Hilfe zulassen kann, finden zu dieser Haltung.
Eindrücklich wird das Ineinander von Übergabe und Übernahme von Verantwortung in Akten der Initiation, die oft auch mit Kleidungsstücken zu tun haben. Hier stiftet das Kleidungs- oder Schmuckstück eine Beziehung wie beim bereits erwähnten Ehering. Einen solchen Ritus, bei dem man als Erwachsener die selten gewordene Erfahrung macht, etwas angezogen zu bekommen, durfte ich selbst schon erleben: nämlich am Tag meiner Einkleidung.3
4. Unter Deinen Schutz und Schirm
Der Ritus der Einkleidung, bei dem der Novize seinen Habit empfängt, würde nicht funktionieren, würde man sich selbst den Habit schnappen und überwerfen. Denn die Einkleidung durch einen Oberen des Ordens symbolisiert beides: sie umkleidet, birgt, schützt, nimmt auf in eine Familie, die sich weit in den Himmel erstreckt, verbunden mit der Zusage: ›Du musst nicht alles alleine schaffen‹. Und sie legt einem das sanfte Joch der Nachfolge Christi im Ordensleben auf, sie ruft, sie fordert.
Solche Riten, an denen unsere Gesellschaft heute bekanntlich nicht sehr reich ist, helfen, sich diese Dialektik einzuprägen. Doch auch ohne sie wartet das Leben für jeden Erwachsenen früher oder später mit der Erfahrung auf, dass er nicht ewig selbstbestimmt leben kann. Gegen Ende unseres Lebens werden wir (auch in Sachen Kleidung und Sich-Anziehen) wieder zunehmen verwiesen auf die Hilfe anderer, wie früher, als wir Kinder waren. Im Evangelium sagt Jesus zu Petrus:
»Amen, amen, ich sage dir: Als du jünger warst, hast du dich selbst gegürtet und gingst, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst.« (Johannes 21,18)

Der erste Tag des neuen Jahres, auf das wir zusteuern, ist Maria geweiht. An sie wenden wir uns im Orden jeden Tag nach der Vesper, unter anderem in der altchristlichen Antiphon Sub tuum praesidium. Maria wird hier (wie in vielen Darstellungen der Kunst) als ›Schutzmantelmadonna‹ angesprochen: ›Unter Deinen Schutz und Schirm fliehen wir‹. (Denken wir auch an der bekannte Lied: Maria, breit den Mantel aus.)
Möge uns auf ihre Fürsprache das Neue Jahr 2024 ein segensreiches und erfülltes Jahr werden, damit wir sprechen können, wie es im Buch des Propheten Jesaja so schön heißt:
»Von Herzen freue ich mich am HERRN. Meine Seele jubelt über meinen Gott. Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit, wie ein Bräutigam sich festlich schmückt und wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt.« (Jesaja 61,10)4
Gottes Segen, einen guten Rutsch, und bis nächste Woche, Maximilian Maria
[Die Audio-Aufnahme ist diesmal ohne Mikrofon, da ich über die Weihnachtszeit in meiner Heimat bin. Zudem bequemte sich unser Mops Ares an einer Stelle, durch das Tonbild zu laufen :)]
Theologisch drückt es Hans Urs von Balthasar so aus: »Kindsein heißt sich verdanken, und da wir in unserem erwachsenen Leben nie dazu gelangt sind, unser Ichsein nicht mehr verdanken zu müssen, entwachsen wir damit auch nie unserem Kindsein, und mit der Verpflichtung des Sich-Verdankens auch der Notwendigkeit des Sich-Erbittens.« (Balthasar, Hans Urs von, Wenn ihr nicht werdet wie dieses Kind, Freiburg: Johannes (2. Aufl.) 1998 [Kriterien 100], S. 65)
Ein weiteres Beispiel: in der katholischen Studentenverbindung Unitas, der ich angehöre, wird dem Spefux bei seiner Rezipierung zum Fux vom amtierenden Präsiden (unter anderen Gesten) zugesprochen: »Als äußeres Zeichen der bundesbrüderlichen Verbundenheit hefte ich Ihnen die Verbandsnadel an und entbiete Ihnen das bundesbrüderliche Du.« Die Initiation stiftet als performativer Akt eine Beziehung. [Eine, für ich im Übrigen sehr dankbar bin. :)]
Übrigens ist diese Stelle in ihrer Bildsprache nochmals ein treffender Ausdruck für das Ineinander von Gekleidet/geschmückt-werden und Sich-kleiden/schmücken.