
»Zu den alltäglichsten Dingen unseres alltäglichen Alltags gehört das Gehen. Man denkt nur daran, wenn man nicht mehr gehen kann, sondern eingesperrt oder gelähmt ist. Dann empfindet man das Gehenkönnen plötzlich als Gnade und als Wunder.«1
Mit diesem Zitat von Karl Rahner hatte unsere Reihe über das Gehen gestartet. Heute beschließen wir sie, indem wir diesem Wunder des Gehens nachgehen sowie dem wundersamen Umstand, dass Gott selbst auf unserer Welt umhergegangen ist und wir ihm nachfolgen können.
Beginnen wir mit dem Gebet eines Menschen, der nicht mehr gehen konnte.
1. Das Wunder des Gehens
»Ich bitte Dich, Herr, um die große Kraft / diesen kleinen Tag zu bestehen / um auf dem großen Wege zu Dir / einen kleinen Schritt weiterzugehen.«2
Dieses Gebet stammt vom dem Theaterschauspieler Ernst Ginsberg (1904-1964). Er verstarb an einer unheilbaren amyotrophen Lateralsklerose. Vor seinem Tod lähmte ihn die Krankheit zunehmend und nahm ihm erst das Schauspiel, dann die Bewegung und schließlich die Sprache.
Als er sich schon nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen konnte, diktierte er seiner Pflegerin noch, durch das Morsealphabet mit den Augenlidern Gedichte. Eines dieser Gedichte übersetzt das Wunder des Gehens in die Wunde, nicht mehr gehen zu können:
»Früher träumt ich vom Fliegen / und weinte, war ich erwacht – / Heute weint ich im Traume: / er hatte mich gehen gemacht.«3
Mich beeindruckt, dass Ernst Ginsberg in all dem Dunkel, dennoch die Kraft, ja das Bedürfnis findet, zu danken. So heißt es in einem anderen Gedicht:
»Oh mein Gott, in der Sturmflut dieser Zerstörung / in der mir die Sprache röchelnd ertrank / laß mir – oh schenk meiner Bitte Erhörung – / nur dieses einzige Wort noch: Dank.«4
Auch in anderen Gedichten drückt Ginsberg immer wieder den Dank aus: für seinen Vater, seine Ehe, seinen Sohn, seine Freunde, seinen Schauspielberuf.5
Er hat die ›große Kraft‹ aufgebracht, die ›kleinen Schritte‹ zu gehen. Und das nicht als heroische Selbstbehauptung – Ginsberg hat selbst betont, man solle keine heroisierenden Floskeln verwenden, von wegen, ›er sie mutig gewesen‹ usf. –, sondern im Vertrauen auf Gott, der das Dunkel kennt – der das Kreuz kennt.
2. Kreuzwege
Gott geht. In Jesus Christus, so glauben wir Christen, ist Gott unter uns gewesen und noch heute mit uns unterwegs. Jesus lebte als Wanderprediger. Die Evangelien schildern uns viele seiner Fußmärsche quer durch das heilige Land. Er heilt Menschen, dass sie wieder gehen können, und eröffnet seinen Jüngern unterwegs die Schrift – besonders in der Emmaus-Erzählung wird das deutlich:
»Und sie sagten zueinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schriften eröffnete?« (Lukas 24,32)
Jesus gibt uns also nicht nur eine Wegbeschreibung, sondern Weggeleit. Er geht jenen Weg mit uns, der er letztlich selber ist (vgl. Johannes 14,1-6). Daraus kann ein Trost erwachsen, der auch dann zumindest durchhalten lässt, wenn wir auf Kreuzungen, durchkreuzte Wege und Kreuzwege geführt werden (wie Ernst Ginsberg).
Der Weg Jesu führt ans Kreuz. Er bahnt einen Weg, den wir selbst nicht hätten finden können: den Weg durch den Tod in die Auferstehung. Wir müssen diese Schneise also nicht selbst schlagen, sondern ›nur‹ hindurchgehen und ihm folgen6 (was jedoch einer unendlich leidvollen Geburt gleichen kann, wie wiederum bei Ernst Ginsberg).
Was dem Unglauben als endloser Tunnel erscheinen mag, wird dem Glauben zum Durchgang. Nur darum können wir christlich Aussagen treffen wie: ›Wir müssen das Kreuz lieben‹.7 Denn wir lieben ja nicht das Leid oder die Krankheit an sich, sondern dass sie uns dem aus Liebe leidenden Christus ähnlich machen – wie er selbst sagt:
»Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.« (Matthäus 16,24)
3. Die Nachfolge Christi
Die Nachfolge Christi wird auch als Imitatio (also Nachahmung) Christi bezeichnet und kann als Bild für das ganze Leben gelten.8 Sie gibt eine feste Form, eine Spur. Und dennoch eröffnet sie eine dynamische Entwicklung, einen Weg. Wir wuchern nicht einfach, sondern entwickeln uns auf ein Ziel hin.
Feste Schritte
Diese schöne Mischung aus Beweglichkeit und Festigkeit kommt schon im Alten Testament zum Ausdruck – hier zwei Beispiele:
Beweglichkeit: »GOTT, der Herr, ist meine Kraft. Er macht meine Füße schnell wie die Füße der Hirsche und lässt mich schreiten auf den Höhen.« (Habakuk 3,19)
Festigkeit: »Er zog mich herauf aus der Grube des Grauens, aus Schlamm und Morast. Er stellte meine Füße auf Fels, machte fest meine Schritte.« (Psalm 40,3)
Und auch Jesus ist ebenso ›fest‹ wie beweglich: Als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener lebt er ›sesshaft‹ als Handwerker; ab dem 30. Lebensjahr macht er sich dann als Wanderprediger auf; und schließlich geht er durch Leiden und Kreuz ein in die Herrlichkeit Gottes.
Dabei trägt er das Kreuz nicht auf den Kalvarienberg wie Sisyphos seinen Stein, der doch nur wieder herunter rollt. Das Kreuz bleibt dort stehen, ja wurzelt sich im Bild gesprochen zum Baum des Lebens. Ebenso spüren die Emmaus-Jünger zwar unterwegs bereits seine Anwesenheit, doch erst beim Brotbrechen, beim Verweilen, erkennen sie ihn. Der Weg Jesu hat also einen Ruhepol, ein Ziel.
Das Fest
Am Ende des Weges wartet keine ewige Wanderung, sondern das Fest. Ein Fest ›begehen‹ wir, wie man ein Gebäude oder ein sicheres Gebiet begeht.9 Das ›Fest‹ steht fest. Bestehen und Begehen fallen in ihm zusammen:
»Das Begehen des Festes hebt das Vergehen auf.«10
Wir ›gehen ein in die Freude des Herrn‹ (Matthäus 25,23). Das Fest ist Leben in Fülle. Es braucht nirgendwo mehr anzukommen, muss nichts mehr erreichen:
»Es ist die Intensivform des Lebens. Im Fest bezieht sich das Leben auf sich selbst, statt sich einem äußeren Zwang unterzuordnen.«11
Unsere Vorstellungen vom Himmel sind deswegen meistens so blass und blöde, weil wir nunmal noch auf dem Weg zum Fest sind. Wir können uns das Hingehen, die Vorfreude, viel leichter vorstellen, als die Freude selbst, das Angekommen-sein.
Dieser Zustand erscheint uns vielleicht sogar unheimlich, als ein ›toter Punkt‹, wie das eingefrorene Lächeln auf einem Foto. ›Halleluja-Singen mit dem Engel Alois?‹, wer will das schon. Doch zeugen solche Bilder eben von unserer Phantasielosigkeit – die vielleicht auch ihr Gutes hat, da Gott uns so umso mehr überraschen kann. Wir sind ja noch sterblich und schauen ihn noch nicht. Wir haben erst ferne Kunde und ferne Musik gehört, von dem Fest, das uns erwartet.
Bis dahin gehen wir unseren Weg. Menschen wie Ernst Ginsberg sind uns darin auf den Spuren Christi vorangegangen.12 Ich wünsche uns, dass wir ebenso unsere größeren und kleineren Kreuzwege mit Dank vollenden können – wie Ginsberg es in einem seiner letzten Gedichte ›Nun wird es Zeit zu danken‹ diktiert hat:
»Zu danken für die Vielen / die meinen Sinn erfühlt / und meine Sprache liebten: / für sie hab ich gespielt – // Dank für die Welt von Träumen / Dank für die Wirklichkeit / Dank, daß ich nie dem Nichts erlag / in dieser schwarzen Zeit – // Nun wird es Zeit zu danken… / Das Wort vermag es nicht! / Doch Du nimm den Verstummten / Herr, wortlos heim ins Licht.«13
Im Anhang teile ich noch einen schönen Vortrag von Tobias Braun. Er spricht vom Gehen in der Nachfolge Christi, des Guten Hirten, und davon, dass Gott Ruhe hat.
Im nächsten Beitrag werde ich drei neue Themen zur Auswahl stellen. Das Thema mit den meisten Stimmen werden wir dann im Blog in der neuen Reihe erkunden. ;)
Gottes Segen und bis bald,
Rahner, Karl, Alltägliche Dinge, Einsiedeln: Benziger (6. Aufl.) 1966 [Theologische Meditationen 5], S. 12.
»Tägliches Gebet in langer Krankheit«, in: Ginsberg, Ernst, Abschied. Erinnerungen, Theateraufsätze, Gedichte, hrsg. v. Elisabeth Brock-Sulzer, Zürich: Arche 1965, S. 244. Das Gebet findet sich übrigens auch im Gotteslob unter der Nr. 17,3.
»Früher und heute«, in: ebd., S. 245.
»Bitte«, in: ebd., S. 234.
Vgl. ebd. S. 255ff.
Vgl. Wulf, Friedrich, Geistliches Leben in der heutigen Welt. Geschichte und Übung der christlichen Frömmigkeit, Herder: Freiburg 1960, S. 16: »Aber nicht unser Gehen ist das erste, sondern das Gehen und Wiederkommen Christi. Sie sind überhaupt die Voraussetzung dafür, daß wir zum Vater gehen können, ja von hierher wird deutlich, daß unser Gehen zum Vater mehr ein Mitgenommenwerden durch Christus bedeutet als ein selbstmächtiges Ausschreiten nur auf den Spuren des Herrn.«
Vgl. Peterson, Erik, Lukasevangelium und Synoptica, hrsg. v. Reinhard von Bendemann, Würzburg: Echter 2005 [Ausgewählte Schriften 5], S. S. 403: »Jesus geht. Er steht nicht nur vor seinem himmlischen Vater, er sitzt nicht nur zur Rechten der Kraft. Jesus geht. Er geht voran und darum gibt es ein Nachgehen, eine Nachfolge.«; Ebd., S. 405: »Mein Freund, wir können das Kreuz des Herrn nicht lieben, wenn wir nicht auch den Weg zum Kreuz lieben, wir können den Weg zum Kreuz nicht lieben, wenn wir nicht auch den Weg zum Kreuz mitgehen.«
Der spirituelle Bestseller von Thomas von Kempen trägt entsprechend diesen Titel.
In Die Aktualität des Schönen weist Gadamer wohl darauf hin. Vgl. auch Han, Byung-Chul, Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, Berlin: Ullstein (4. Aufl.), S. 51: »Wir können das Fest [nicht aber die Arbeit] begehen, weil es gleichsam steht wie ein Bauwerk.«
Han, Byung-Chul, Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M.: Fischer (4. Aufl.) 2016, S. 85.
Han, Vom Verschwinden der Rituale, S. 51.
Eine Art doppelte Nachfolge: Im Dominikanerorden beten wir z.B. jeden morgen für die Brüder und Schwestern, die ›Christus auf den Spuren des heiligen Dominikus nachfolgen‹.
»Choral«, in: Ginsberg, Abschied, S. 256.