
[Anmerkung: Da ich um Ostern herum krank war, erscheint der Beitrag von letzter Woche erst heute. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine frohe Osterzeit! :)]
»Ich, nach der Gnade Gottes ein Christenmensch, meinen Werken nach ein großer Sünder, meiner Berufung nach ein heimatloser Pilger, niedersten Standes, pilgere von Ort zu Ort. Folgendes ist meine Habe: auf dem Rücken trage ich einen Beutel mit trockenem Brot und auf der Brust die Heilige Bibel; das ist alles.«1
Mit diesen Worten beginnt ein berühmtes Werk der spirituellen Literatur: die Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers aus dem 19. Jahrhundert. Bedürfnislos, nur mit Brot und Bibel, geht der anonyme Verfasser seinen Weg.
Der heilige Dominikus, den wir oben in einer Darstellung aus dem 14. Jahrhundert sehen, ist ähnlich arm unterwegs.2 Er hat sogar, wie es seine Art ist, die Schuhe ausgezogen und geht barfuß über Stock und Stein.
Bis heute greifen Menschen zum Pilgerstab, auch wenn sie nicht mit Beuteln voller Brot und Bücher, sondern mit Geldbeutel und Funktionskleidung unterwegs sind. Tatsächlich gibt es eine überraschende Fülle an Pilgerliteratur, die zu den beliebtesten Büchern überhaupt gehören, wie vor allem ein Bestseller unserer Zeit beweist.
1. Ich bin dann mal weg
Im Jahr 2001 begibt sich der deutsche Komiker Hape Kerkeling auf den Jakobsweg. Dieser ist – spätestens seit Hape Kerkeling – der bekannteste Pilgerweg Europas. 2006 veröffentlicht er seine Reiseerfahrungen unter dem Titel: Ich bin dann mal weg.
Mehr als 100 Wochen steht das Buch auf Platz eins der Spiegel Bestsellerliste für Sachbücher. Es wurde so nicht nur zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Bücher überhaupt, sondern sorgte darüber hinaus für einen großen Anstieg der Pilgerzahlen nach Santiago de Compostela.
Weitere Pilgerliteratur
Schon Bestseller früherer Zeiten drehen sich um eine Pilgerreise, z.B. John Bunyans (1628–1688) The Pilgrim‘s Progress from This World, to That which Is to come. Ich persönlich kannte das Buch nicht, doch scheint es einer der am meisten übersetzten Werke überhaupt zu sein. In der allegorischen Erzählung durchlebt der Pilger ›Christian‹ im Traum eine Reise: von den christlichen Tugenden begleitet, muss er das Leben bestehen, und dabei vor allem gegen die Entmutigung kämpfen.3
Das Motiv einer lebensverändernden Pilgerreise bietet sich an, wenn man eine Bewegung beschreiben will, und sei es eine innerliche. Ein Abenteuer lässt sich nunmal schwerlich in den eigenen vier Wänden erleben.
Darum durchzieht das Reise-Motiv die gesamte Weltliteratur von Anfang an: von der ältesten überlieferten Erzählung überhaupt, dem Gilgamesch-Epos, über Homers Odyssee, die chinesische Pilgerfahrt nach dem Westen oder Bashōs Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland (1689), bis hin etwa zum Herrn der Ringe. Auch die Bibel kennt Geschichten eines großen Aufbruchs: so bei Abraham und dem Auszug aus Ägypten.
Der Held fast jeder Geschichte ist also ein homo viator, ein Mensch auf dem Weg (sonst gäbe es ja keine Geschichte zu erzählen). Doch ist noch nicht jeder Reisende ein Pilger im engeren Sinn.
2. Wer ein Pilger ist
Das Wort Pilger kommt vom lateinischen per agrum, ›über das Land‹. Ebenso kann es für ›Fremdling‹ stehen. Pilger ist also, wer über das eigene Stück Land hinausgeht und sich in die Fremde begibt. Das tun jedoch der Flaneur im Kleinen und der Wanderer im Großen auch. Beim Pilger kommt hinzu, dass er nicht bloß Eindrücke oder Erholung sucht, sondern religiös motiviert ist.
Religiöse Motivation
Als Pilger und Wallfahrer heilige Stätten zu besuchen, ist vielen Religionen vertraut. Im christlichen Mittelalter kommt es zu einer regelrechten Massenbewegung. Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela sind die klassischen Ziele, wobei das himmlische Jerusalem, also die Ewigkeit, stets das eigentliche Ziel bleibt.4
In der katholischen Kirche ist das Pilgern bis heute sehr beliebt. Der heilige Ignatius von Loyola etwa nannte seine Autobiografie schlicht ›Bericht des Pilgers‹;5 während hingegen Luther das Pilgern ablehnte als ›Narrenwerk‹ und ›Geläuff‹, weshalb es im Protestantismus nie in derselben Intensität aufkam.6
Heute mögen die religiösen Motive nicht mehr so artikuliert sein wie früher, jedoch treibt auch die modernen Pilger die Sinnfrage um:
»Viele Menschen unternehmen eine Pilgerreise inzwischen nicht mehr aus religiösen Gründen, sondern um Krisenzeiten in ihrem Leben zu bewältigen – etwa nach einer Krankheit, einer Trennung oder in Findungsphasen. Oft suchen sie die Einsamkeit der Pilgerreise, um wieder zu sich selbst zu finden, aber vielleicht auch, um Gleichgesinnte zu treffen.«7
This too shall pass
Pilger ist also, wer nicht einfach im status quo zuhause ist. Wo die Menschen sonst leben, als würden sie ewig leben, geht er tiefer. Er weiß, dass alles vorübergeht – auch das, was sich vor unseren Augen als Versuchung aufbläht – this too shall pass. Er hat »Sinn für das Transitorische der menschlichen Existenz«8.
Darum will sich der Pilger ausrichten aus das Wesentliche. Worin dieses Wesentliche bestehen soll, darüber sind in einer pluralen Gesellschaft die Mitreisenden auf dem Lebensweg unterschiedlicher Meinung. Jedenfalls begreifen sich die Pilger unter ihnen als ›Gast auf Erden‹,9 als Vorübergehende im doppelten Sinn: sie vergehen und gehen vorüber.
Doch was unterscheidet das Gehen eines Pilgers vom alltäglichen Gehen?
3. Gehen als Ausdruck der Hoffnung
1974 erkrankt die Filmhistorikerin Lotte Eisner schwer und wird in ein Pariser Krankenhaus eingeliefert. Der bekannte Regisseur Werner Herzog erfährt davon und beschließt, von München aus zu ihr zu gehen – und zwar ›gehen‹ im wörtlichen Sinn –, weil er meint, sie könne, solang er zu Fuß zu ihr unterwegs ist, einfach nicht sterben. Nach drei entbehrungsreichen Wochen trifft er in Paris ein – und tatsächlich ist Lotte noch am Leben.10
Das Ziel vereinfacht
Diese Geschichte illustriert eine Eigenschaft, die mir für das pilgernde Gehen charakteristisch scheint: ein Ziel zu haben, für das man ein einfaches Leben in Kauf nimmt. Das einfache Leben ist strukturiert, da es eine Hin-Ordnung hat.
Das Ziel – der ›Siegespreis‹, wie Paulus sagt (vgl. Philipper 3,14) – strukturiert die ganze Unternehmung und lässt auch auf Komfort verzichten, wie wir eingangs gesehen hatten. Tatsächlich reisen Pilger auch heute noch nachweislich bescheidener als touristische Wanderer.11
Schon Jesus weist seine Jünger an, keine Vorratstasche mitzunehmen (vgl. Lukas 10,3-8). Wer ein Ziel hat und auch willentlich darauf ausgerichtet ist, kann Entbehrliches erkennen und es lassen. Wie Aragorn im Herrn der Ringe zu einen Gefährten Legolas und Gimli spricht, als sie zur Rettung ihrer Freunde aufbrechen:
»Wir reisen mit wenig Last und schnell.«12
Ruhelose Wanderer
Doch ist nicht jeder schon ein Pilger, der eine fixe Idee verfolgt wie Werner Herzog und dafür Gewaltmärsche auf sich nimmt.13 Menschen können zu ruhelosen Wanderern werden, wenn sie kein Ziel haben, das größer ist, als sie selber.
Wie Gespenster (denken wir an den ›ewigen Holländer‹) sind sie in einer nicht endenden Endlichkeit gefangen. Sie haben keine Hoffnung. Sie irren umher. Sie gehen um, doch gehen nirgendwo hin.
Der Pilger hingegen geht nicht bloß in eigener Sache, sondern ist ein Mensch der Hoffnung. Mit einem berühmten Satz von Tolkien gesprochen:
»Not all those who wander are lost.«
Gehen als verkörperte Hoffnung
Der Pilger schreitet aktiv der Zukunft entgegen (= Futur). Er wartet nicht bloß ab. Und doch rechnet er damit, dass auch eine Zukunft auf ihn zukommt (= Advent).14 Der Pilger ist jene paradoxe Figur, die in die Fremde geht, um in die Heimat zu kommen.
Mich begeistert der Gedanke, dass das Gehen dabei nicht nur eine Metapher für die Hoffnung ist, sondern sie tatsächlich körperlich abbildet. Hoffnung lässt sich definieren als eine Spannung, die dann entsteht, wenn ich ein Zeil schon sehen oder ahnen kann, es jedoch noch nicht erreicht habe. (Wenn ich ein Ziel schon erreicht hätte oder aus dem noch-nicht ein ›niemals‹ würde, wäre die Hoffnung dahin.)
Das Gehen bildet diesen Vorgang ab. Wenn ich etwa einen Waldweg entlang gehe und einen bestimmten Baum als Ziel ins Auge fasse, sehe ich ihn schon, bin aber noch nicht dort. Wenn ich dann einen Schritt vor den anderen setze, wiederholt sich diese Erfahrung der Hoffnung, bis ich schließlich – vor dem Baum stehe.
Gehen ist Hoffnung. Es ist wie bei der gelben Muschel auf blauem Grund, die vieltausendfach den Jakobsweg ziert: sie zeigt mir, dass ich noch nicht am Ziel bin, und doch schon auf dem richtigen Weg dorthin – wenn ich nur einen Fuß vor den anderen setze.
Ich wünsche uns, dass wir in dieser Osterzeit und darüber hinaus, ob wir gehen oder stehen, solche Momente der Hoffnung erleben dürfen, die uns auf unser Ziel ausrichten. Dazu möchte ich schließen mit den Schlussworten des offiziellen Pilgersegens:
Führe sie glücklich ans Ziel ihrer Fahrt und lass sie wieder unversehrt nach Hause zurückkehren. / Gewähre ihnen schließlich, dass sie sicher das Ziel ihrer irdischen Pilgerfahrt erreichen und das ewige Heil erlangen. / Darum bitten wir dich durch Christus, unseren Herrn. Amen.
Beim nächstem Mal werden wir im vorletzten Beitrag zum Gehen das oben erwähnte Motiv der Lebensreise aufgreifen, wenn die Heldenreise betrachten.
Gottes Segen und bis bald,
Anonymus, Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers. Die vollständige Ausgabe, übers. v. Reinhold von Walter, hrsg. v. Emmanuel Jungclaussen, Freiburg: Herder (20. Aufl.) 2020, S. 23.
Zur Gebetsweise des Gehens bei Dominikus vgl. den letzten Beitrag ›Verkörpert beten. Die neun Gebetsweisen des hl. Dominikus‹ (<https://gottsuchen.substack.com/p/neues-video-verkorpert-beten>).
Eine aufgeschlüsselte Darstellung des Werks bietet der Wikipedia-Artikel <https://de.wikipedia.org/wiki/The_Pilgrim’s_Progress>.
»Das Land der Verheißung, das in der Geschichte Israels konkrete topographische Züge hat, wird im Christentum entterritorialisiert und ins Eschatologische transportiert. Das himmlische Jerusalem, das der Pilger als Ziel seiner Reise vor Augen hat, ist auf keiner Landkarte verzeichnet.« (Tück, Jan-Heiner, »Homo viator. Editorial«, in: Communio (5/2018), S. 442)
Eine Ignatius-Biografie von Ignacio Tellechea (1986) trägt passend dazu den Titel ›Allein zu Fuß‹.
Vgl. Ayerle, Nina, Wandern. 100 Seiten, Ditzingen: Reclam 2022, S. 23.
Ayerle, Wandern, S. 23f.
Nigg, Walter, Des Pilgers Wiederkehr. Drei Variationen über ein Thema, Zürich: Diogenes 1992, S. 22.
Über dieses Thema und die Heimat im Himmel habe ich bereits einen Beitrag geschrieben: <https://gottsuchen.substack.com/p/zu-gast-auf-erden-warum-unsere-heimat>.
Später hat Werner Herzog die Erfahrung festgehalten in seinem Buch ›Vom Gehen im Eis‹.
Vgl. Ayerle, Wandern, S. 73: »Wanderer auf Pilgerrouten unterscheiden sich oft von touristischen Wanderern. So zeigen Befragungen, dass der gewöhnliche Wanderer ein starkes Bedürfnis nach einem Naturerlebnis kombiniert mit Servicequalität hat. Die Pilger hingegen verzichten oft bewusst auf Komfort, sie suchen das einfache Leben – häufig sind sie alleine unterwegs oder finden Gleichgesinnte an den Pilgerstätten und bilden Gemeinschaften.«
Im O-Ton des Buches: »Kommt! Wir wollen jetzt gehen. Lasst alles zurück, was entbehrlich ist. Wir wollen vorwärtseilen bei Tag und bei Nacht!« (Tolkien, J.R.R., Der Herr der Ringe [in einem Band], übers. v. Margaret Carroux, Stuttgart: Hobbitpresse (7. Aufl.) 2015, S. 466.)
Le Breton, Lob des Gehens, S. 103-125 schreibt über Gewaltmärsche, die sich Menschen auf Expeditionen angetan haben: Cabeza de Vaca, René Caillié, Richard Burton mit John Speke, Michel Vieuchange.
Christlich gesehen, gehen wir auf etwas zu, das schon da ist (Jesus ›sitzt zur Rechten des Vaters‹) und zugleich noch aussteht (er wird ›wiederkommen in Herrlichkeit‹). In Schuberts ›Der Wanderer an den Mond‹ gibt es (natürlich aus dem Kontext gerissen) einen dazu passenden Vers: »O glücklich, wer wohin er geht, / Doch auf der Heimat Boden steht!« (<https://www.schubertlied.de/die-lieder/der-wanderer-an-den-mond-d870>).